"Blue Velvet" (USA 1986) Kritik – Das Grauen der Vorstadt

“Es ist eine fremde, seltsame Welt, was?”

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David Lynch ist in der großen, weiten Filmwelt einer der außergewöhnlichsten Regisseure überhaupt. Nicht selten lässt er sein Publikum mit großen Fragezeichen über dem Kopf und verärgert vor dem Bildschirm zurück. Im Gegensatz zu seinen treuen Anhängern, die genau diese unglaubliche Verwirrung lieben und bei jeder erneuten Filmsichtung einen versteckten Denkwinkel und Interpretationsansatz entdecken. Lynch gibt uns in jedem Fall genügend Diskussionsstoff. Mit ‘Blue Velvet’ aus dem Jahr 1986 inszeniert der Meister des Surrealen zwar keinen derartigen Schädeltritt wie mit ‘Lost Highway’ oder ‘Mulholland Drive’, füttert seine Fangemeinde aber mit einem alptraumhaften Ritt quer durch unsere schwarzen Seelen.

Wir schwanken zwischen der glänzend-schimmernden Vorstadtidylle und einem abgründigen, dunkelblauen Schleier, der immer wieder über dem Film schwebt. Dieser Kontrast bindet den Film nach und nach in eine der bedrohlichsten Atmosphären überhaupt ein. Die musikalische Untermalung findet der Film durch den Soundtrack von Angelo Badalamenti, der durch seine charmante und nostalgische Ader und der unterschwelligen Bedrohung einmalig ist. Dazu der sich immer wiederholende Klassiker “Blue Velvet” von Bobby Vinton, der für den Film natürlich kaum passender sein könnte.

Mit Kyle McLachlan und Laura Dern hat ‘Blue Velvet’ genau die richtigen Schauspieler für die unschuldigen Vertreter der Vorstadt gefunden. McLachlan spielt Jeffrey, den Collegestundeten der durch ein abgetrenntes Ohr (s)einen Abgrund betritt. McLachlan ist blendenden gewählt und kann durch sein unaufdringliches und sympathisches Schauspiel schnell die Zuschauer auf seine Seite ziehen. Ebenso Dern, die als Polizistentochter Sandy zwar weniger Zeit zum Entfalten bekommt, in ihren Szenen aber immer überzeugen kann. Das große Highlight des Films ist allerdings Dennis Hopper, der sich als extremer Psychopath Frank quer durch den Film flucht und sich dabei in einen beängstigenden Rausch spielt. Isabelle Rossellini als Dorothy Vallens meistert den Grat zwischen verführerisch und erschreckend durchgehend und kann ebenfalls eine mehr als starke Leistung abrufen.

Der Vorspann läuft, wir blicken auf den dunkelblauen Vorhang. Ein Vorhang der uns noch vor der Wahrheit schützt und gleichermaßen trennt. Doch er lüftet sich und wir werden zuerst in die pure Idylle geworfen. Helle Farben, freundlich-grinsenden Menschen und pure Wärme. Doch der erste Zwischenfall lässt nicht lange auf sich warten und als würden die Insekten tief im Gras uns die dreckige Welt prophezeien, werden wir auch langsam in sie gezogen. Das abgetrennte Ohr ist die verschimmelte Eintrittskarte in Jeffreys fremde Welt. Jeffrey ist ein unschuldiger, wohlerzogener Mann, der nie ahnen würde, was sich in seiner Nachbarschaft abspielen könnte. Doch seine Neugierde ist unaufhaltbar und er steigt in diese schwarze Welt ein und wird Teil von ihr. Er wird selbst zu einem Fremden. Nachdem er Dorothy nähergekommen ist und seine ersten Erfahrungen mit ihr sammeln konnte, sieht er das Chaos auf zwei Beinen zur Tür reinkommen. Frank, einer der furchtbarsten und erschreckendsten Charaktere überhaupt. Für Frank ist Dorothy nur eine Sexmarionette. Er prügelt auf sie ein, beschimpft sie und nimmt sich was er will. Immer mit seiner Inhalationsmaske in der Tasche die ihn mit irgendwelchen Drogen benebelt und sein krankes Hirn noch weiter zertritt. Der Wahnsinn hat diesen Mann längst überwältigt. Doch Jeffrey scheint immer noch nicht abgeschreckt genug von dieser Realität zu sein. Er besucht Dorothy erneut und hat Sex mit ihr. Eine emotionale Basis entsteht zwischen den beiden. Nicht zuletzt dadurch, dass Dorothy einen anderen Mann in Jeffrey zu sehen scheint. Jeffrey ist vollkommen hin und hergerissen. Schockiert von seinen Erlebnissen und angezogen von den Reizen der neuen, unentdeckten Welt. Doch dieses Mal kommt Jeffrey nicht ungeschoren davon und läuft Frank direkt in die Arme. Was nun folgt ist ein schrecklicher Alptraum der bittere Folgen für alle haben wird.

Mit ‘Blue Velvet’ erzählt uns die David Lynch zu Anfangs eine recht lockere Krimistory. Das dies jedoch nicht der Hauptpunkt der Geschichte ist, wird dem Zuschauer schnell bewusst. Die Vorstadtromantik, mit ihren gepflegten Gärten und weißen Zäunen, ist Fassade. Überall warten Abgründe, vielleicht auch in unserer Nachbarschaft, und wir befinden uns in einem Psycho-Thriller der packendsten Art. Abgründe die uns zu schnell vernichten können und uns zu einem Teil von ihnen machen. Die Eigenschaften und Charaktere sind hier in zwei ganz klare Gruppen eingeteilt. Es gibt die Guten und Bösen. So denkt man jedenfalls. Doch im Laufe der Geschichte verschmelzen diese beiden Gruppierungen. Helligkeit wird von Dunkelheit übermannt. Gut und Böse versinken in sich selbst und finden erst am Ende ihre wirklichen Plätze. Ganz besonders deutlich und beeindruckend festgehalten ist das in der Szene, in der Dorothy nackt und misshandelt im Vorgarten der geräumten Vorstadt steht.

‘Blue Velvet’ ist ein Aufzug geradewegs in die dunkelsten Kammern der menschlichen Seele. Tief verborgen in uns allen. Aber es wäre kein Lynch, wenn wir uns am Ende nicht doch wieder unzähligen Fragen widmen müssten. Fragen die uns während des Films gar nicht in den Sinn kommen würden und sich erst am Schluss oder Stunden danach stellen. Er hämmert natürlich nicht in dem Ausmaß eines ‘Mulholland Drive’ auf uns ein. Auf eine Straße der Finsternis schickt er uns aber in jedem Fall. Wo hat sich diese Geschichte abgespielt? War es nur der Alptraum einer geschundenen Seele? Eine Vision? Eine ausgebaute Phantasie eines Perversen? Oder doch die bittere Realität? Viele Interpretationsmöglichkeiten lassen sich hier aufzählen und im Film an vielen Stellen entdecken. Das alles entführt uns wieder in das unverwechselbar atmosphärische Lynch-Universum, aus dem wir uns kaum entziehen können und immer wieder einen neuen Versuch starten müssen. Immer und immer und immer…

Fazit: ‘Blue Velvet’ ist eine Fahrt durch sexuelle und gewalttätige Abgründe. Ein Rausch aus finsterer Menschlichkeit, blauem Wahnsinn und farbenfroher Täuschung. Mit grandiosen Darstellern, einer fantastischen Atmosphäre und einem starken Soundtrack wird ‘Blue Velvet’ ein Film der ganz besonderen Art. Eben ein typischer Lynch, obwohl er sich in vielen Belangen von seinen anderen Filmen so klar unterscheidet.

Bewertung: 9/10 Sternen

1 Comment

  • David Lynch ist mein Lieblingsregisseur und “Blue Velvet” war der erste Film von ihm, den ich mir angeschaut habe. In meinen Augen ist der Film ein Meisterwerk. Schon die Anfangssequenz finde ich großartig – die Sache mit dem Gartenschlauch und dem Herzinfarkt. Die Szene ist klasse. Eine Sache, die ich an David Lynch immer faszinierend fand, ist, dass seine Filme teilweise ästhetisch betrachtet so wunderschön sind. Wie Gemälde. In “Blue Velvet” fällt das auch auf. Zum Beispiel die roten Blumen vor dem strahlend weißen Gartenzaun und dem blauen Himmel ganz am Anfang, oder Isabella Rosselini im blauen Scheinwerferlicht auf der Bühne vorm roten Vorhang.
    Den Zusammenprall von Gegensätzen mag ich auch sehr gern. Das strahlend Schöne, unter dem sich Dunkelheit verbirgt. Und ich mag das einzigartige Gefühl, das David Lynch-Filme ganz tief in mir auslösen. Dafür gibt es gar keine richtige Umschreibung. Man wird von ihnen eingesaugt, durchgekaut und dann einfach wieder ausgespuckt.
    “Blue Velvet” ist im Vergleich zu Lynchs späteren Filmen ja noch eher “normal”, trotzdem ist er genial und ich würde ihn weiterempfehlen – gerade, weil er nicht so (vergleichsweise) harte Kost ist wie z.B. “Lost Highway”, “Mulholland Drive” oder gar “Inland Empire” (den habe ich nicht verstanden, um ehrlich zu sein), die einen ziemlich abschrecken können, wenn man Lynch nicht gewohnt ist.

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