Kritik: Die letzte Nacht in Mailand (IT 2023) | Neu auf Blu-ray

Eine Gastkritik von Marc Trappendreher

Die letzte Nacht in Mailand Film 2023

Die obersichtige Kamerafahrt über die lichtdurchfluteten Straßen Mailands bei Nacht, dazu die pulsierende Elektromusik, die die Kameraarbeit untermalt – die wenigen filmsprachlichen Zeichen reichen vollends, um mit reduzierten Mitteln die Ästhetik des Neo-Noir-Thrillers zu evozieren, die für Die letzte Nacht in Mailand (L‘ultima notte di Amore) prägend sein wird. Für den Noir-Film spricht allein schon die etwas komplexe und auf Verwirrung zielende Erzählung: Ausgerechnet am Tag seiner Pensionierung wird der Polizeileutnant Franco Amore (Pierfrancesco Favino) zu einem Tatort gerufen, an dem sein bester Freund und langjähriger Partner Dino (Francesco Di Leva) bei einem Schusswechsel getötet wurde. Doch die Umstände seines Todes lassen Fragen offen, die auch Franco selbst in den Mittelpunkt der Ermittlungsarbeiten rücken.

Mit Die letzte Nacht in Mailand erlebt der italienische Kriminalfilm einen beachtlichen Höhepunkt, ein Film, der sich ganz bewusst in die Tradition des harschen, rauen italienischen Polizeifilms der Siebzigerjahre stellt. Tatsächlich umfassen die Schauplätze aus Fernando Di Leos Milano Kaliber 9 (1972) den neuen Film des italienischen Regisseurs Andrea Di Stefano auf besondere Weise. Da wie hier ist der Hauptbahnhof zu sehen, der noch ein zentraler Eröffnungsschauplatz aus Di Leos Film war.

Für Franco Amore, dessen Name dem Film seinen zweideutigen, ja falsch-romantischen Titel gibt, ist nach fünfunddreißig Jahren Nachtdienst bei der Kriminalpolizei in Mailand nun die Zeit des Ruhestands gekommen. Um das Ende eines Lebens und den Beginn eines anderen zu feiern, hat seine Frau Viviana (Linda Caridi) eine Überraschungsparty für ihn organisiert. Doch viel Zeit für das ausgelassene Feiern gibt es nicht. Bis zum Sonnenaufgang erlebt Franco, der in seiner Karriere großen Wert darauf gelegt hat, nie von seiner Dienstwaffe Gebrauch zu machen, die schwierigsten Stunden seines Lebens als Polizist, wobei er seine Arbeit, seine Ehe und sein eigenes Leben in Gefahr bringt.

Die ersten Bilder des Schwebezustandes seiner aufwändigen Titelsequenz über die glitzernde Stadt lassen erahnen, wohin die Geschichte führen wird: Es sind Bilder der Verführung, die vollkommen den Glanz reiner Oberflächenstrukturen zelebrieren – ja, denen man verfallen will. So auch Franco Amore, der einem Juwelenraub für die chinesische Mafia nicht widerstehen kann; er erscheint da zunächst als der rechtschaffene Carabinieri, dann als der zwielichtige Korrupte, in allen Fällen aber ist er der unerbittliche Individualist, den Favino mit mal harter und mal zarterer Miene gibt. Er ist ein Mann, der sich nicht korrumpieren lassen will, dem die jetzigen Lebensumstände – die Hinweise auf sein prekäres Gehalt sind mit Bedacht gesetzt – indes nicht genügen. Geld sei der Teufel in Person, heißt es an einer Stelle und Die letzte Nacht in Mailand zeigt wohl die zerstörerische Kraft, die dem Kapital innewohnt. Es setzt, auch bei noch so pflichtbewussten Ordnungshütern, ein Streben nach mehr frei, das hier doch mehr Hadern ist. Pierfrancesco Favino gibt diesen Amore mit der für ihn typischen schweren Körperhaftigkeit – ein zerbrechlicher Koloss, dessen massige Statur eher Schutzhülle für die innere Zerbrechlichkeit ist. Er ist in einem Beruf engagiert, den er liebt, aber in einem System gefangen, das ihn verachtet. Und wenn die Lösung zur Aufbesserung seiner mageren Rente nun darin bestünde, hin und wieder für das organisierte Verbrechen zu arbeiten?

Andrea Di Stefano kennt man für seine Arbeiten in den USA, etwa das Pablo Escobar-Biopic Paradise Lost (2014) mit Benicio del Toro und den Actionthriller The Informer (2019), doch Die letzte Nacht in Mailand ist in seiner Perspektive auf Kriminalität eine deutliche Abkehr von diesen Filmen, ja bewegt sich viel näher am Poliziottesco. Im Wesentlichen nämlich ist der Konflikt der von Pierfrancesco Favino (bei Di Stefano) und Gastone Moschin (bei Di Leo) gespielten Figuren derselbe: Der eine ist ein Polizist, der andere war ein Gangster, aber im Grunde sind es die gleichen kaputten und erschöpften Männer, denen der plötzliche Reichtum winkt, der ihr Leben verändern könnte, sie aber an den Rand der Vernichtung bringen wird.

Das ist entscheidend für Di Stefanos Sicht auf seinen ambivalenten Helden: Er verurteilt ihn nicht, er versteht ihn – Di Stefanos Interesse gilt vielmehr einem Menschen in der Extremsituation. Diese stückweise aufzuschlüsseln, ist bereits in der narrativen Struktur des Films angelegt. Das fatalistische Moment des Noir-Films liegt schon in der Präsentation der Ereignisse: Zu Beginn scheint bereits alles verloren, der Tatort steht fest, der Polizeikollege und engste Freund ist nicht mehr. Von da aus unternimmt Di Stefano eine ausschweifende Rückblende, die nach und nach die Umstände dieses Mordes aufdeckt. Dass sich die Fronten für Franco verwischen, resultiert letztendlich aus seiner Mitschuld. Der Tatort, der Übergang und Fluchtbewegung suggeriert, steht hier symptomatisch für die Doppelexistenz, in der sich Franco selbst verfangen hat, ja, der zentrale Schauplatz des Filmes ist nicht umsonst ein Straßentunnel: ein reiner Nicht-Ort, ein Transitraum als Metapher für den unmittelbaren Erlebnisraum dieses Mannes, der sich in einem permanenten Zustand der Schwelle, des Übertritts befindet. Für einen Schritt zurück ins alte Leben ist kein Handlungsspielraum mehr gegeben, die Richtung nach vorne ist indes ungewiss. Franco Amore ist gefangen in diesem Zwischendasein, dem Wendepunkt seines Lebens.

Die Musik von Santi Pulvirenti vollzieht diese sukzessiven Stadien von Kontrollverlust, Bewusstwerdung und Entscheidungszwang mit, sie verleiht diesem Thriller einen treibenden Impuls, verbindet elektronische Klänge mit einer Geräuschkulisse der menschlichen Stimme, einer Mischung aus Hauchen und Pfeifen – die Referenz auf Ennio Morricone ist unverkennbar. Ferner ist die Titelmelodie aber auch eine Hommage an die großen Meister des Poliziottesco – an Osanna, die Progressive-Rock-Band, Luis Bacalov, Stelvio Cipriani oder noch die Gebrüder Angelis. Die letzte Nacht in Mailand umarmt diese Inspirationen, ohne daraus eine Selbstaussage zu machen. Der Film endet letztlich mit dem Schauplatz der Piazza del Duomo, dort, wo rund fünfzig Jahre zuvor Fernando Di Leos Film in ähnlich trüben, blaugrauen Aufnahmen seinen Ausgang nahm. Ein sehenswertes Krimierlebnis.

★★★★★☆☆☆

Die letzte Nacht in Mailand feierte am 24. Februar 2023 bei der Berlinale Weltpremiere und erscheint nun, ohne Kinoauswertung, am 3. November 2023 direkt auf DVD und Blu-ray. Hat euch die Kritik gefallen? Dann unterstützt CinemaForever.net gerne, indem ihr bei eurer nächsten Bestellung über einer der folgenden Bildlinks geht.*

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