Kritik: Millennium Mambo (TW 2001)

Eine Gastkritik von Marc Trappendreher

Millennium Mambo Film 2001

Everything changes. Nothing stays the same.

Bilder einer entfremdeten Jugend

Die Bildwelten von Hou Hsiao-Hsien sind die der reichen Sinneseindrücke, der farbigen Räume: grelles Blau, stechendes Gelb und sattes Rot bestimmen die Farbpalette seines 2001 erschienenen Films Millennium Mambo. Das Nachtleben von Taipeh ist eines der pulsierenden Beats und der grellen Neontöne; es ist ein betörender Bilderrausch, den Hou da aufmacht. Seine formalsprachliche Wirkung liegt in der hypnotischen Dimension der Bilder, die einen Sogeffekt auslösen und in ihren Bann ziehen – die eröffnende Plansequenz von Millennium Mambo ist bis heute unvergessen. Darin sehen wir, wie eine junge Frau davonläuft, direkt in die Kamera blickend, dazu die träumerisch-schwelgende Musik von Giong Lim. Über den Bildern und der Musik liegt eine Erzählstimme, die der jungen Frau gehört. Es ist eine zunächst enigmatische und mysteriöse Einstellung, mit der Hou seinen Film eröffnet, die Anziehungskraft der Bilder und Töne wird sich erst im Laufe der Erzählung zu einem Ganzen fügen.

Das Neue Taiwanesische Kino, das in den Achtzigerjahren global erfolgreich wurde und zu dessen bedeutendsten Vertretern Hou Hsiao-Hsien und Edward Yang mit seinem Film Taipei Story (1985) zählen, hat kaum eigene filmhistorische Bezugspunkte. Das Taiwanesische Kino und besonders Millennium Mambo suchte sich seine filmischen Vorbilder im westeuropäischen Kino der Nachkriegszeit. Es ist ein Jugendbild, wie es die Französische Nouvelle Vague hervorbrachte, mit Filmen wie François Truffauts Jules et Jim (1962). Eine Jugend, die in Bewegung ist, die die große Freiheit atmen will. Aber die augenscheinlich wichtigste Inspirationsquelle von Millennium Mambo liegt im italienischen ‚Art Cinema‘: Das Absterben des Affekts hat wohl kaum ein Filmemacher der Nachkriegszeit eindringlicher befragt und in Bilder gefasst als Michelangelo Antonioni (Liebe 1962).

Hous Einfluss auf das Neue Taiwanesische Kino war überaus groß. Der Stillstand auf den Straßen, die leeren Wohnviertel, die Auflösung des Menschen in seiner Umwelt, eine gesteigerte Wahrnehmung für die Objektwelt – viele dieser Ansätze Antonionis finden sich in dieser Modernisierungstendenz des taiwanesischen Kinos bestätigt. Hou Hsiao-Hsien und Edward Yang sind Filmemacher, die mit ihrer Gesellschaft sehr verbunden sind und ein kritisches gegenwartsbezogenes Kino in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen rückten. Bereits das Frühwerk von Hou kreiste um verlorene Jugendliche in Taipeh – mit Filmen wie Die fernen Tage meiner Kindheit (1983), Große Ferien (1984) und Geschichten einer fernen Kindheit (1985).

Millennium Mambo Shu Qi

So auch Millennium Mambo: Hou beschaut darin die Entfremdung und die Kommunikationsunfähigkeit der jungen Generation untereinander als Ausdruck einer neuen kosmopolitischen Kultur, die die Metropole Taipeh um die Jahrtausendwende als Zeichen der modernen Welt ausstrahlt. Im Zentrum dieses Zeit- und Stadtbildes fokussiert Hou die dysfunktionale Beziehung zweier junger Menschen, die sich plötzlich vor dem Anbruch des neuen Jahrtausends mit einer existenziellen Leere konfrontiert sehen, deren Ursprünge nie ganz klar zu bestimmen sind: Vicky (Shu Qi) will sich lossagen von ihrem besitzergreifenden und manipulativen Freund Hou-Hou (Chun-hao Tuan). Sein toxisches und übergriffiges Verhalten sowie seine zwanghafte Eifersucht treiben Vicky zunächst in die Arme des Gangsters Jack (Jack Kao). Doch auch er kann ihr den Halt nicht geben, den sie sucht. Sie ist eine Gestrandete, die nirgendwo in dieser globalisierten Welt wirklich sesshaft ist: weder in den engen Wohnungen, in den anonymen Hotelzimmern oder den Nachtclubs. Und schon gar nicht in den schäbigen Motels. Es sind unpersönliche und ausdruckslose Räume, die Hou abbildet, einer globalen Tendenz der Anonymisierung und Uniformierung entsprechend.

Millennium Mambo ist ferner ein Film um die Jahrtausendwende über die Jahrtausendwende und die Verlassenheit, die sie mit sich brachte. Ihr Abgleiten in die Drogensucht, ihr schwindender Bezug zur Wirklichkeit und ihrer Umgebung lassen diese von Shu Qi interpretierte Vicky mitunter ganz teilnahmslos, ja apathisch erscheinen. Sie wirkt kalt und distanziert, einer Monica Vitti in Antonionis Filmen nicht unähnlich – wenn die Komplexität der Gefühlslage sich einer verbalsprachlichen Äußerung entzieht, dann werden die Leerstellen bei Hou bedeutsam. Vicky kann mithin von sich selbst nur rückblickend über den Voice-Over-Kommentar in der dritten Person berichten; es ist der äußere Ausdruck dieser entfremdeten und orientierungslosen Jugend. Das Subjekt konstituiert sich bei Hou erst in der Zukunft, aus der Distanz. Nur rückblickend lässt sich das Erlebte verarbeiten und sinnstiftend wiedergeben. Hou Hsiao-Hsiens Film ist zweifellos ein Höhepunkt eines Kinos des Realitätsverlustes, das perfekt auf die Unbeständigkeit der modernen Welt abgestimmt ist.

Die HD-Veröffentlichung von Rapid-Eye-Movies auf Basis eines 4K-Transfers verleiht diesem Filmklassiker des Taiwanesischen Kinos seine nötige Brillanz und Tiefenschärfe, um tatsächlich in die Schwärze der Nacht sehen zu können, um wahrhaftig das Spiel der Farben erleben zu können. Die grellen Töne des Neonstabs oder das warme, flackernde Kerzenlicht, es sind diese Lichtquellen, die die Räume bei Hou erst erschaffen. Sie stechen durch diese aufwändige Restaurierungsarbeit umso mehr hervor. Begleitet wird der Film von einem textkritischen Booklet, das um eine filmhistorische Einordnung bemüht ist und besonders die Formsprache des Films in Bezug zu seinem Inhalt setzt.

Seit dem 18. April 2024 ist die restaurierte Fassung von Millennium Mambo erstmals in Deutschland auf Blu-ray erhältlich. Zudem könnt ihr euch den Film als Stream bei Amazon Prime anschauen. Hier geht’s zum Trailer.

 

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