Gastbeitrag von Clemens Judersleben
In Bayern konnte man vom 22. Juni bis zum 01. Juli etwas Cannes-Flair beim Filmfest München erleben. Ich war für drei Tage vor Ort, um verschiedene Highlights der diesjährigen Festivalsaison vorab zu entdecken.
Als zweitgrößtes Filmfestival Deutschlands muss man das sommerliche Filmfest München zuerst mit der winterlichen Berlinale vergleichen. Neben den klimatischen Bedingungen fallen auch beim Ticketkauf Unterschiede auf: Eintrittskarten für Berlinale-Premieren und Wettbewerbsvorstellungen sind nur durch langes Anstehen oder exakt getimte Mausklicks zu ergattern. Ähnlich gut vorbereitet stellte ich jedoch Tage nach dem Ticketkauf fest, dass sowohl für hochgelobte Beiträge als auch heißersehnte Events noch Tickets beim Filmfest München verfügbar waren. Wann bekommt man schon mal so einfach die Gelegenheit einer Rede von Bryan Cranston beizuwohnen?
Hommage Bryan Cranston
Im Rahmen des CineMerit Award wurde Cranston für sein Lebenswerk ausgezeichnet. In seiner Laudatio ließ Sir Peter Jonas das Leben des Ausnahmeschauspielers vom TV zum Arthouse zum Hollywood Star Revue passieren. Anschließend sprach Cranston über die Magie und Kraft des Erzählens und wie er voller Stolz selbst nun seine Geschichten präsentieren kann. Im Rahmen der Verleihung stellten er und seine Regisseurin Robin Swicord das US-Independent Drama „Wakefield“ vor. Nach seinem inspirierenden Auftritt auf der Bühne begeisterte Cranston auch in der Darstellung des Familienvaters Howard Wakefield, der sich über Nacht aus dem konventionellen Familienleben unbemerkt auf einen Dachboden zurückzieht und zum schweigsamen, vermissten Beobachter der resultierenden familiären Entwicklung wird. Der gesellschaftliche Rückzug Wakefields ist nahezu komplett von familiären Problemen motiviert, wodurch die Geschichte des Öfteren banal wirkt und viel ihrer sonstigen Schlagkraft einbüßt. Die Darstellung gesellschaftlicher und ökonomischer Zwänge, die ganz sicher auch zu Wakefields Verwandlung beitrugen, blieben leider aus.
Cannes-Sammelsurium
Beim Filmfest München handelt sich im Vergleich zur Berlinale, Venedig oder Cannes nicht um ein A-Festival. Für die beiden Wettbewerbskategorien CineMasters und CineVision müssen die Münchner Kuratoren somit nicht zwingend exklusive Weltpremieren ergattern. In Folge dessen finden sich nur 3,5 Wochen nach Cannes eine Vielzahl bereits hochgelobter und mit Preisen ausgezeichneter Produktionen im Programm. Die Liste an neuen Werken von Andrey Zvyagintsev über Michael Haneke bis hin zu Arnaud Desplechin liest sich wie ein Who‘s Who des europäischen Arthousekinos. Insgesamt standen sechs Filme auf meinem Programm, die noch vor wenigen Wochen ihre Premiere in Cannes feierten.
Der russische Meisterregisseur Andrey Zvyagintsev hat für „Loveless“ in Cannes den Preis der Jury erhalten. Nach Leviathan verbindet er wieder eine emotionale, familiäre Tragödie mit russischer Systemkritik. In bildgewaltigen Metaphern und kunstvollen Kameraeinstellungen zeigt der Film das Leiden des jungen Alyosha unter der Trennung seiner Eltern. „Loveless“ sucht gesellschaftliche Erklärungsansätze für das egoistische Verhalten der Protagonisten, bevor der Film auf der Suche nach dem spurlos verschwundenen Jungen in der zweiten Hälfte in eine unglaublich bedrückende Ohnmacht verfällt. Sowohl die poetische, perfekt komponierte Anfangssequenz als auch der emotionale Schlussakt werden den Zuschauern lange im Gedächtnis bleiben. Nicht nur ein Highlight des diesjährigen Filmfests – für mich der bisher beste Film 2017.
Der zweite russische Wettbewerbsbeitrag, in Cannes wie auch in München, versucht sich ebenfalls an einer kritischen Auseinandersetzung mit Putins Russland. Es fällt mir schwer über die kafkaeske Erzählung „Die Sanfte“ zu schreiben. Weder habe ich viele Aspekte der metaphorisch undeutlichen Kritikpunkte verstanden, noch hat mich die Geschichte emotional abgeholt, da der Zuschauer fast nichts über die Protagonistin erfährt. Regisseur Sergei Loznitsa war persönlich vor Ort und hatte sichtlich Spaß an dem surrealen Treiben der letzten 20 Minuten. Bei mir hatte sich dann trotz einiger toller Bilder längst Resignation eingestellt.
Kino Hopping durch die französische Filmkultur
Der entspannte Einlass, relativ kurze Distanzen zwischen den Kinos und eine verlässliche Anbindung mit den Öffentlichen machen es möglich auch bei einem recht engen Zeitplan zwischen den verschieden Spielstätten zu pendeln, um möglichst viele Filme mitzunehmen. Der zweite Festival-Tag stand nun ganz im Zeichen des französischen Kinos. Den Anfang machte jedoch „The Day After“ aus Südkorea: Die Festivalkuratoren priesen Hong Sang-soo aufgrund seiner Nähe zur Nouvelle Vague als den französischsten Regisseur asiatischer Herkunft. Nach „On the Beach at Night Alone“ gefiel mir sein neuester Film noch besser. In seinem typischen Stil langer, beiläufiger, doch sehr gehaltvoller Gespräche und ungewöhnlich wirkender Kamerazooms erzählt der Filmemacher von einem Verlagschef, der zwischen seiner Ehefrau und einer bereits entlassenen Mitarbeiterin hin- und hergerissen ist. Hong Sang-soos Muse Kim Min-hee (in Berlin mit dem silbernen Bär ausgezeichnet) wird an ihrem ersten Arbeitstag Zeuge der emotionalen Bredouille des Hauptcharakters. Die Verwendung von Schwarz-Weiß ergänzt perfekt die Handschrift des Regisseurs. Die einsamen nächtlichen Außenaufnahmen in Korea sowie das sparsam aber an emotionalen Eckpunkten verwendete musikalische Thema spiegeln die Zerrissenheit der Figuren effektiv wieder.
Die Geschichte eines Sommers an der französischen Mittelmeerküste im Leben der jungen, kurz vor dem Erblinden stehenden „Ava“ fügt sich reibungslos in die Schwerpunkte des Filmfests ein. Sowohl die Themenreihen „Youth on the Move“ als auch „Kreativer Widerstand“ spiegeln sich in dem emotionalen Studienabschlussfilm Léa Mysius wieder. Voller wilder Ideen verbindet sich hier regionale Studie, soziales Drama sowie Sturm und Drang zu einem berauschenden, empathischen Erstlingswerk, nicht frei vom Einfluss Xavier Dolans. Während in den ersten zwei Dritteln eine Straffung des Drehbuchs den Fluss erleichtert hätten, setzt sich gegen Ende regelrecht ein Heist-Thriller durch und erstarrt in einem wundervollen letzten Bild Avas. Léa Mysius arbeitete bereits an einem Drehbuch von Arnaud Desplechin mit und sollte in Zukunft im Auge behalten werden. Eine internationale Kinoauswertung ist ihr für den auf 35 mm gefilmten „Ava“ auf jeden Fall zu wünschen!
Den Abschluss am Samstag machte dann ein alter Bekannter: „The Artist“-Regisseur und Oscar-Gewinner Michel Hazanavicius. Sein neues Jean-Luc Godard Biopic „Le Redoutable“ feiert den Spaß am Filmemachen. Ich kann mir vorstellen, dass Verehrer Godards in Hazanavicius Werk Blasphemie sehen. Für mich war es ein grundsympathischer Tagesabschluss voller liebevoller, zeitgenössischer Filmreferenzen, Meta-Spielereien und Running Gags. Die Hommage an Godards Nouvelle Vague funktioniert auch dank der großartigen Hauptdarsteller Louis Garrel und Stacy Martin. Ihre Charaktere bleiben zwar nur Abziehbilder ihrer politischen und künstlerischen Ideale, doch schaffen es die beiden ihren grundlegenden Ehekonflikt emotional und glaubwürdig darzustellen. Michel Hazanavicius war leider erst zum zweiten Screening vor Ort um dem Publikum Rede und Antwort zu stehen. Gerne hätte ich den sympathischen Regisseur wiedergetroffen. Ich erinnere mich mit einem Schmunzeln an eine zufällige, sehr angenehme Begegnung mit Hazanavicius vor 3 Jahren nahe des Eifelturms, an gestammelte Worte und ein gemeinsames Selfie. In „Redoutable“ lässt Hazanavicius mehrere Verehrer seines Werkes während der 68er Demonstrationen auf den narzisstischen Godard los, dieser reagiert jedoch desinteressiert und genervt, voller Spott und Hohn.
Qual der Wahl
Aufgrund seines zeitnahen Kinostarts im Oktober entschied ich mich gegen „Happy End“ von Michael Haneke als Abschlussfilm am Sonntagabend. Meine Wahl fiel dagegen auf das Sozialdrama „L’ Intrusa“ von Leonardo di Costanzo, der seinem Film persönlich im CineMaster-Wettbewerb vorstellte. Die Geschichte handelt von dem Einfluss der Gomorrha auf die Bevölkerung von Neapel und einer Tagesstätte, die sich um sozial benachteiligte Kinder kümmert, um sie vor dem Einfluss des Verbrechens zu schützen. Ganz nüchtern werden Ausweglosigkeiten und moralische Konfliktpunkte präsentiert. Visuell bewegt sich der Regisseur und sein Team eher auf TV-Niveau. Eine klare Handschrift thematisch ähnlich orientierter Filmemacher wie Ken Loach oder den Dardenne-Brüdern vermisst man leider. Dafür liefert Hauptdarstellerin Raffaella Giordano die wohl ergreifendste Performance des Wochenendes ab.
Wie alle Filmfestivals kann sich auch das Filmfest München auf eine Vielzahl verschiedener spannender Sektionen verlassen. Der Großteil meiner gesehenen Filme lief im Wettbewerb CineMasters, wo bereits etablierte Regisseure aus aller Welt ihre neuen Filme präsentierten. Im Wettbewerb CineVision werden dagegen wilde, kreative Filme von Nachwuchsregisseuren- und regisseurinnen gezeigt, wie zum Beispiel „Ava“. Glücklich und zufrieden hinsichtlich meiner „Cannes-lastigen“ Filmauswahl, aber auch erschöpft von sieben Filmen in drei Tagen, trete ich den Heimweg an und freue mich darauf, nächstes Jahr ein paar Experimente im Bereich der „International Independents“ zu wagen, oder mich doch mehr mit der Zukunft des deutschen Films in der Sektion „Neues deutsches Kino“ zu beschäftigen.
Auch CF-Autor Conrad war auf dem Filmfest München 2017 unterwegs. Seine Reaktion zu den gesehenen Filmen könnt ihr sogar in Vlog-Form sehen oder wahlweise als Podcast hören!