Autor: Pascal Reis
“Everyone has something they’re good at. I’ve always been stupid, but I’m good at this.”
Die schottische Küstenlandschaft. Ein Ort der Entspannung und Selbstfindung, ein Ort, an dem die zügigen Brisen der Gesundheit neuen Antrieb geben, die jedem Besucher sorglos mit aller Frische um die Nasen pfeifen und mit der prächtigen Naturkulisse, durchzogen von idyllischen Postkartenmotiven, einen ungezwungenen Einklang findet. In Breaking the Waves sind die äußerlichen Naturattribute natürlich gegeben, doch den ersehnten Seelenfrieden bekommt man hier nicht auf dem aseptischen Silbertablett serviert, sondern trifft auf eine Auskoppelung der Free Church of Scotland, puritanisch bis in Mark und apodiktisch auf die strikten Grundsätze des Calvinismus pochend. Im Klartext bedeutet das: Die tiefreligiöse Randgruppe ist durchzogen von Verboten und zensierten Lebensvorstellungen. Hier darf man keinen Schmuck tragen, hier wird nicht getanzt und Kirchenglocken sind untersagt. Die Bewohnerinnen dürfen den klargezeichneten Radius der festgefahrenen Traditionen nicht verlassen und wenn doch, dann schreit das nach dem moralischen Dilemma. Frauen haben hier allgemein wenig zu sagen, denn wenn sie es sich erlauben im falschen Momenten, zum Beispiel in einem Gottesdienst (Worst Case Scenario), zu sprechen, droht die gnadenlose Exkommunikation.
In dieser bornierten Umgebung lebt Bess (Ein geladenes Waffenarsenal an unverstellter Emotionalität: Emily Watson). Und Bess ist anders, ganz zum Unmut ihrer Familien und den anderen Menschen in ihrer Nähe. Bess hat nämlich, ganz im Gegensatz zu ihren Mitmenschen, ein Herz aus purem Gold, sie ist offen für Neues, zeigt Fremden nicht die kalte Schulter, sondern hat vielmehr ein freundliches, einladendes Lächeln für sie übrig. Da passt es auch gerade perfekt, dass Bess ausgerechnet Jan (hervorragend: Stellan Skarsgård), einen Außenstehenden und Unbekannten der Gemeinde, heiratet. Ihr eh schon angeknackster Ruf zieht tiefere Risse. Bess jedoch stört das nicht, sie hat die Stütze gefunden, die ihr Zeit ihres Lebens gefehlt hat, sie erfährt endlich was Erfüllung bedeutet dabei nicht nur aus seelischem Blickwinkel betrachtet, sondern auch aus dem sexuellen. Jan und Bess stürzen sich in einen Strudel voll stimmiger Sinnlichkeit und Gefühl, der die unübersehbare Einigkeit des Ehepaares in die höchsten Höhen manövriert. Doch Jans Aufenthalt in der Küstenregion ist nicht von Dauer, denn die Arbeit auf der Bohrinsel muss getan werden, Abschied, genau dann wenn es schöner nicht werden könnte.
Bess, das naive und doch so liebenswerte Gemüt, fleht Gott auf den Knien an. Sie fleht um die Rückkehr ihres geliebten Jans, von Liebeskummer und alles überschattendem Herzschmerz beherrscht. Das ist der Moment, in dem das Gebet nicht mehr seinen eigentlichen Sinn verfolgt, sondern als Mittel zum Zweck fungiert. Gott so scheint es reagiert: Jan kommt tatsächlich zurück auf das Festland, jedoch vom Hals abwärts gelähmt. Und wie reagiert Bess auf diese Hiobsbotschaft? Sie erfreut sich über die Tatsache, dass Jan noch nicht zu den Toten zählt, sondern weiterhin in ihrer Nähe verweilen darf, wenn auch vollkommen hilflos und womöglich für immer ans Bett gefesselt. Eine frische Liebe wird gnadenlos auf die Probe gestellt und die Grenzen ihrer Zweisamkeit bekommen offensichtliche Grenzen zugesprochen. Jan jedoch, seiner tragischen Lage mehr als nur bewusst, untersagt Bess nicht den Geschlechtsverkehr mit anderen Männern, er fordert sich sogar dazu auf, um anschließend von ihren Erlebnissen zu berichten und sie detailliert zu schildern. Bess willigt ein.
Was danach auf den Zuschauer einschlägt, ist emotionsgeladenes, durch und durch aufrichtiges und ebenso pures (Liebes-)Kino. An dem Ort, an dem Bess mehr Verbote denn Freiheit erfahren durfte, findet sie durch Jan genau den Fluchtweg, der ihr ein Leben so ermöglicht, wie sie es sich immer gewünscht hat, doch aufgrund des Milieus, in das sie hineingeboren wurde, nie denkbar gewesen wäre. Das Schicksal geht allerdings seine eigenen Wege und macht dem ungebundenen Pärchen einen Strich durch die liebevolle Rechnung Bess’ Aufopferung, ein Motivationsvergleich mit einer Löwin, die alles dafür gibt, um ihr Kleines zu beschützen, beginnt. Sie prostituiert sich der Liebe wegen, sie würde alles tun, damit sie Jan nicht aufgeben muss und er sich selber ebenso nicht aufgibt, nur um ihn glücklich zu sehen.
Breaking the Waves wird zu einem intensiven Opfergang, ein umfassendes Martyrium, eingekesselt in einer verstellten Welt, die von religiöser Verstrahlung dirigiert wird und sich in Wahrheit letzten Endes selbst verleugnet. Gebete bringen Bess nicht voran, sie bringen ihr nicht die erhoffte Glückseligkeit, sondern schlagen im Umkehrschluss entgegensetzte Pfade ein. Das hat rein gar nichts mit polemischer Blasphemie seitens Lars von Trier zu tun, sondern ist genau die Kritik an religiösem Klammerverhalten, die den Nagel auf den Kopf trifft, die genau das anspricht, was die gläubige Blauäugigkeit dieser Zielgruppen verdrängt. Wieso soll Gott den Menschen helfen, die nicht aus dem unabdingbaren Glauben beten, sondern nur dann das Wort gen Himmel richten, wenn sie schnelle Hilfe benötigen, die sich nicht an die Richtlinie halten, die Tag für Tag aus reiner Routine heruntergebetet werden? Ist das nicht auch in gewisser Weise eine der ehrlichsten Darstellungen Gottes und sein Handlungsverhalten, die es bisher zu sehen gab?
Natürlich können die Anhänger der Gemeinde Bess’ Verhalten kein Stück nachvollziehen. Wie auch? Diese Menschen stolpern derart ignorant durch die Welt, klammern sich an fragwürdige Gepflogenheiten, ohne ihr Leben zu genießen, und bekommen schlussendlich nie den Ertrag ausgezahlt, den sie durchgehend so hoch preisen. Diese Personen können keinen Blick für gefühlgesteuertes Verhalten haben, wie sollen sie sich einen solchen in ihrer Unbeweglichkeiten angeeignet haben? Hier wird nicht von einer Person nach dem Warum gefragt, hier wird abgestempelt und konsequent fallen gelassen. Eine Gemeinde, in der Gemeinschaft so brüchig ist, wie nichts Anderes. Bess, die treue, unermüdliche Seele wird schon bald als Nutte beschimpft, mit Steinen beworfen und findet sich verlassen auf dem harten Boden der Realität wieder. Nächstenliebe wird bestraft, welch Ironie.
Breaking the Waves hat ohne Wenn und Aber natürlich einen orthodoxen Kern. Die Behauptung von Gottes Anwesenheit ist immer gegenwärtig, bis zu dem Punkt, an dem Bess realisiert, dass ihre Mühen vergeblich sind. Sie kann Jan nicht helfen, egal wie vielen Männern sie auf Wunsch von ihrem Ehemann noch hingeben wird. Sie betet erneut, verzweifelt, verängstigt, desillusioniert. Und Gott? Gott schweigt. Er antwortet ihr nicht mehr in ihren Gebeten und Bess sieht sich vollständig allein gelassen. Die religiöse Hinterfragung, die Lars von Trier hier nun betätigt, ist Proklamation und pessimistische Offenbarung der Naivität und Verlogenheit zugleich. Wer sich noch in stupiden Behauptungen wälzen will, dass von Trier hier eine unverkennbare Feindseligkeit gegenüber Frauen an den Tag legt, der hat nicht im geringsten die Auffassungsgabe mitgebracht, die von Nöten ist, um zu verstehen, dass von Trier NIE die Frauen selbst in ein schlechtes Licht stellt, sie zerbrechen schlussendlich an ihrem Umfeld. Das hat alles nichts mit Misanthropie, Misogynie und auch nichts mit Misandrie zu tun. Eine Frau passt nicht mehr in die schnörkellosen (und extrem abstoßenden) Muster der Ortschaft. Sie wird verdrängt, von ihrer eigenen Mutter nicht mehr angenommen, und weil sie ihrem Mann alles geben will, weil sie Gefühle zeigt, soll sie medikamentös bekämpft werden.
Breaking the Waves ist ein Abgesang auf die Verzogenheit religiöser Unterdrückung, ohne sie im Allgemeinen zu verteufeln, und doch, so schmerzhaft das Szenario ist, so doktrinär das Gesamtbild oberflächlich ausfällt, ist Lars von Trier hier ein Film gelungen, der sich nicht nur Schmerz, Vitalität und Schicksal teilt, sondern an das Gute im Menschen glauben lässt. Genau das ist die Botschaft, die sich unter der qualvollen Passion versteckt, genau das ist der Punkt, den von Trier ins seiner unvergleichlichen Art freischaufelt und den Zuschauer dabei genau da trifft, wo es am schmerzhaftesten, aber die Hoffnung dennoch gegenwärtig ist.