– gesehen im Rahmen des Wettbewerbs der 74. Internationalen Filmfestspiele von Cannes –
Das junge Mädchen Alexia verliert bei einem von ihrem Vater verursachten Autounfall fast ihr Leben. Nach der lebensrettenden Operation muss sie fortan mit einer Titanplatte in ihrem Kopf leben. So viel Introduktion gibt Julia Ducournau noch in ihrer nur schwer zu greifenden zweiten Regiearbeit, welche viel mehr in eine Midnight Madness Sektion passen würde, als in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes. Doch genau im dortigen Programm ist Titane gelandet, und das nicht ganz grundlos. Es ist der bisher mutigste Film des Jahres, ein ebenso erschütternder wie bewegender Cocktail aus Körperhorror, Rock and Roll und neonfarbenen Welten, der darüber hinaus aber einiges über das 21. Jahrhundert zu sagen hat.
Fünf Jahre ist es bereits her, dass die französische Regisseurin Julia Ducournau mit ihrem Coming-of-Age-Kannibalenfilm Raw die Filmwelt schockte und für ihren vollkommen frischen Ansatz im Horrorfilm direkt mit dem FIPRESCI-Preis in Cannes geehrt wurde. Die damalige Begründung der Jury: “Ein beeindruckendes Debüt mit einer starken Bildsprache. Die Regisseurin erzählt eine düstere Coming-of-Age-Geschichte und verwendet Themen aus Horrorfilmen, um die Einsamkeit und das sexuelle Erwachen einer aufgewühlten Teenagerin auszudrücken.” Für viele also, auch für mich, ist Raw einer der cleversten Genrebeiträge des letzten Jahrzehnts.
Bei Titane war ich nun beim Verlassen des Kinosaals zunächst gemischter Gefühle, die Gedanken unsortiert. Von “vollkommener Irrsinn” bis “irrsinniger Blödsinn” war ich mir nicht ganz im Klaren, von was ich hier gerade eben Zeuge geworden bin. Dies klärte sich dann allerdings ganz schnell auf meinem Spaziergang zurück ins Hotel. Julia Ducournau hat ihren eigenen Crash gedreht, doch vergleichbar mit David Cronenbergs Meisterwerk aus dem Jahr 1996 (der damals übrigens den Preis der Jury in Cannes gewonnen hat) ist Titane nur oberflächlich gesehen. In beiden geht um eine technifizierte Welt, in der die Objektifizierung des Menschen die Oberhand gewonnen hat. Dabei geht es auch um die Frage, ob in dieser modernen Gesellschaft noch Platz für Menschlichkeit ist.
Julia Ducournau lotet mit ihrer ekstatischen Erzählweise dabei bereits nach nur wenigen Minuten Laufzeit die Grenzen des Kinos aus, um diese dann wiederum konsequent zu überschreiten. “Achten Sie auf neurologische Anzeichen.”, damit warnte bereits ein Arzt nach Alexias Operation die Eltern vor. Doch die Worte blieben unerhört. Alexia ist nun bereits erwachsen geworden und arbeitet als Modell und Tänzerin bei Autoshows. Den einen oder anderen männlichen Fan hat sie natürlich auch. Als ihr nach einer Show einer dieser Fans bis zu ihrem Auto folgt, dort ihr “nein” nicht akzeptiert, ersticht sie ihn unerwartet kaltblütig mit ihrem Haarstab. Erinnerungen an Thelma & Louise kommen auf. Spätestens an dieser Stelle wird klar: Alexia ist seit dem besagten Autounfall durch eine traumatische Vergangenheit ohne Elternliebe gezeichnet. Und nun ist der Moment gekommen, ab dem es für sie kein Halten mehr gibt. Wie für die beiden (Anti-)Heldinnen in Ridley Scotts Roadmovie, gibt es auch für Alexia kein zurück mehr in das bisherige Leben.
Wegen Mordes von der Polizei gesucht und zudem von einem Cadillac geschwängert (ja ihr lest richtig), entstellt sich Alexia auf der Flucht selbst bis zur Unkenntlichkeit, um so als verschwunden geglaubter Junge Zuflucht bei Vincent, dem Vater des Jungen, zu finden. In diesem gebrochenen Mann findet Alexia immer mehr die Akzeptanz, welche ihr in ihrem bisherigen Leben verweigert wurde. Doch weiß er noch nicht, wer sie wirklich ist. Und dann ist da auch noch die Schwangerschaft, die Alexia immer mehr zu schaffen macht und die sie immer schwerer vor Vincent verheimlichen kann. Titane ist ein nicht immer greifbarer, manchmal unlogisch anmutender, schmerzhafter Filmritt durch eine Welt, die nur noch durch Entmenschlichung bestimmt wird. Wie unser aller Zukunft aussehen wird, wenn es so weiter geht, darauf gibt Julia Ducournau dann eine ganz klare und gleichzeitig offene Antwort, die in nächster Zeit noch für viel Diskussionsstoff sorgen dürfte.
Mehr möchte ich dann erst einmal auch gar nicht zu Titane sagen, damit auch ihr in den vollen Genuss dieses rauschhaften Bodyhorrordramas kommt. Nur so viel: Solch einen Film habt ihr noch nicht gesehen! Julia Ducournaus erst zweite Regiearbeit fühlt sich wirklich auf brillante Weise an, als hätte David Cronenberg Laurence Anyways gedreht. Mit einem geschätzten Budget von gerade einmal sechs Millionen Euro bringt die Raw-Regisseurin den bisher unvergesslichsten, cleversten Filmrausch des Jahres in die Kinos. Inklusive einer hervorragenden Debütperformance von Agathe Rousselle.
Bundesweiter Kinostart von Titane ist der 7. Oktober 2021. Ab dem 3. Februar 2022 ist der Film dann bereits für das Heimkino erhältlich.*
Hier geht es zum Trailer auf Youtube.
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