Der Eisturm – Berlinale-Interview mit Regisseurin Lucile Hadžihalilović

Der Eisturm 2025 Interview Lucile Hadžihalilović
Regisseurin Lucile Hadžihalilović hat sich auf der Berlinale 2025 Zeit genommen, um mit Autor Hendrik Warnke über ihren neuen Film, die atmosphärische Märchenverfilmung “Der Eissturm” zu sprechen. | © CinemaForever.net

“Kälter als Eis sticht ihr Kuss mitten ins Herz… 1970er-Jahre. Angezogen von den Lichtern der Stadt im Tal, nimmt die 16-jährige Jeanne aus einem Kinderheim in den Bergen Reißaus. Sie findet Unterschlupf in einem Filmstudio, das sie nachts in aller Ruhe erkundet. Tagsüber wird hier der Film Die Schneekönigin gedreht, in dem die geheimnisvolle Cristina die Hauptrolle spielt. Der wunderschöne, leidgeprüfte Star zieht Jeanne sofort in den Bann. Zwischen dem Mädchen und der Schauspielerin entwickelt sich eine gegenseitige Faszination. Allmählich nimmt Jeanne eine immer wichtigere Rolle bei dem Dreh ein. Während ihre Obsession für das Reich der Schneekönigin wächst, verbinden sich zwischen Set und Leinwand Film und Realität zu einem magischen, labyrinthischen Spiel. Doch das hat seinen Preis. Liebt Jeanne die Schneekönigin genug, um das Opfer zu bringen, das diese von ihr verlangt?”

Soweit die offizielle erste Synopsis von Der Eisturm vor der Weltpremiere auf der diesjährigen Berlinale. Die französische Regisseurin Lucile Hadžihalilović ist schon länger für ihre eigenwillige, oft surreal und mystisch anmutende Erzählweise bekannt. Ihre Filme beschäftigen sich häufig mit komplexen Themen wie der menschlichen Psyche, Wahrnehmung und Identität, wobei sie in atmosphärisch dichte, visuell beeindruckende Welten eintaucht. Mit ihrem neuen Film, der französisch-deutschen Ko-Produktion mit dem Originaltitel La Tour de Glace, setzt sie diese Linie fort und kreiert ein faszinierendes, zugleich verstörendes Werk, das sich mit Themen wie Obsession, Einsamkeit, Mystifizierung und der verwischten Grenze zwischen Traum und Realität auseinandersetzt. Angelehnt an Hans Christian Andersens traditionelles Märchen Die Schneekönigin prämierte auf der 75. Berlinale ein kühler, traumhafter und zugleich verstörender Film, der neben Marion Cotillard (Der Geschmack von Rost und Knochen, La vie en rose) eine debütierende Clara Pacini in den Mittelpunkt stellt.

Hadžihalilović hat bereits mit Filmen wie Innocence (2004) und Evolution (2015) internationale Aufmerksamkeit erregt und sich damit einen Ruf als Regisseurin erarbeitet, die konventionelle Erzählformen hinterfragt und das Publikum mit einer Mischung aus poetischer Visualität und psychologischer Intensität herausfordert. In diesem Interview sprach sie mit CinemaForever.net-Gastautor Hendrik über die Inspiration hinter La Tour de Glace, ihre Faszination für düstere Märchenwelten, ihre Auseinandersetzung mit der Verehrung von Idolen sowie die psychologischen Dimensionen ihrer Filmkunst.

Wieso hast Du Dich dazu entschieden ausgerechnet das dänische Märchen Die Schneekönigin zu adaptieren?

Ich liebe die Märchen von Hans Christian Andersen. Ich finde viele von ihnen inspirierend und komplex – besonders Die Schneekönigin. Ich war fasziniert von der Frage, was eine Schneekönigin sein könnte und wie sie gleichzeitig real und archaisch bleiben kann. Ebenso spannend fand ich die Idee eines jungen Mädchens in der Hauptrolle, das mehr erlebt, als der Junge in der Originalversion. Die Geschichte enthält auch die Idee eines Spiegels, der vom Teufel geschaffen wurde und die Welt verzerrt widerspiegelt. Das fand ich irgendwie passend fürs Kino. Dieser Spiegel ist für mich die Leinwand, die Kameralinse, mit der die Geschichte erzählt wird. Am Ende des Märchens, wenn das Mädchen die Schneekönigin besiegt, geht es für sie darum, sich selbst und den Jungen zu befreien – eine Welt zu finden, die von der Ewigkeit spricht. Lange Zeit wusste ich nicht, was Ewigkeit in dieser Hinsicht wirklich bedeuten soll, bis ich schließlich erkannte, dass es auch mit dem Tod zu tun hat, was mich besonders an der Geschichte interessiert hat.

Das Märchenhafte und Verwunschene findet sich ja in vielen Deiner Filme. Woher kommt Deine Begeisterung dafür?

Ich weiß nicht genau, aber als Teenager begann ich, allein ins Kino zu gehen, und ich war sofort fasziniert. In Casablanca, wo ich lebte, gab es viele Kinos, in denen man Giallos sehen konnte. Diese Filme waren emotional, schön, aber auch gruselig und mysteriös, und diese Mischung prägte mich. Vielleicht liegt meine Liebe zu Geheimnissen auch daran, dass meine Mutter mir oft Märchen vorlas, besonders von Andersen. Die sind teilweise sehr düster und eigentlich nicht wirklich für Kinder, aber total faszinierend. Einige Märchen, wie Die Schneekönigin, haben ein gutes Ende und sind nicht ganz so düster?

Heißt das, Du findest den Film auch nicht sonderlich düster?

Doch, doch, der Film ist definitiv düster. Jeanne begibt sich auf eine dunkle, nächtliche Reise, die aber sowohl schön als auch gruselig ist. Achtung, Spoiler: || Das Ende ist offener als im Märchen. Jeanne befreit sich, aber vielleicht bleibt sie doch gefangen – im Kristall ihrer eigenen Fantasie. Denn ihre Verbindung zu Christina bleibt, weil Erfahrungen uns nie wirklich loslassen. || Die Dunkelheit hat für mich etwas Beruhigendes; sie ist romantisch und vermittelt ein Gefühl von Sicherheit, wie in einem Schutzraum. Der Film spiegelt diese Emotionen wider, während Jeanne in ihrer eigenen Welt die Realität mit ihren Träumen vermischt.

Wieso hast Du das Geschlecht der Hauptfigur geändert?

Märchen haben eine Verantwortung, da sie Stereotype hinterfragen können. Filme wie der ebenfalls auf der Berlinale laufende The Ugly Stepsister zeigen, wie Märchenfiguren aus einer neuen Perspektive betrachtet werden. Auch Schriftsteller wie Angela Carter nutzen Märchen, um die Reise und Befreiung von Frauen zu erzählen. Märchen sprechen uns an, weil sie archetypische Figuren enthalten, mit denen wir uns stark verbunden fühlen – wie die kalte Mutter, die ich auch in meinem früheren Film thematisiert habe.

Aber macht das Kino nicht das Gleiche?

Ja, das Kino, auch der Mainstream, vermittelt verzerrte  Stereotypen über Frauen. Als Kunstform gibt uns das Kino oft ein verzerrtes Bild der Realität, sowohl auf gute als auch auf schlechte Weise. Heute, mit mehr weiblichen Regisseurinnen, werden diese Stereotype viel mehr hinterfragt. Es entstehen neue, vielfältigere Geschichten und Figuren, auch in der Darstellung männlicher Figuren. Es ist spannend zu sehen, wie Regisseurinnen und Autorinnen diese Figuren gestalten.

Der Eisturm Marion Cotillard
Marion Cotillard in ihrer neuesten Rolle als Schneekönigin mit eisigem Blick.

Spielt der Film deshalb in den 70er Jahren?

Auch. Vor allem aber weil das Mysterium um Filmsets und Schauspieler damals noch viel stärker war – es gab weniger Informationen und Wissen. Mit Geoff Cox, dem Drehbuchautor, entschieden wir uns, die Geschichte in dieser Zeit anzusiedeln, auch weil es ein bisschen persönlicher für mich ist. Außerdem gab es die „Diva“ damals noch viel stärker und das passte einfach zu Cristinas Charakter. Sie ist in einem härteren System gefangen ist. Vielleicht ist sie deshalb zerstörerisch und so kalt.

Wie meinst Du das genau?

Cristina musste viele Opfer bringen, um ein Star zu werden. Wir wissen nicht viel über sie, aber man kann sich vorstellen, dass sie vieles in sich „getötet“ hat, um dorthin zu kommen. Die Filmwelt damals war anders, und das spiegelt sich in ihrem Verhalten wider. Sie hatte zu dieser Zeit mehr Macht, ähnlich wie Stars aus früheren Jahrzehnten. Diese Idolisierung gibt den Menschen vielleicht Hoffnung, doch diese Besessenheit kann zerstörerisch wirken. Das sehen wir bei Jeanne – sie ist gefangen in einer endlosen Schleife und nie zufrieden mit sich selbst.

Wieso hast Du Dich für Marion Cotillard als Darstellerin der Cristina entschieden?

Ich bewundere Marion Cotillard für ihr Charisma und ihre Fähigkeit, sowohl Sinnlichkeit als auch eine gewisse kühle Distanz auszustrahlen. Ihre Mischung aus kaltem und warmem Charme ist faszinierend, und sie hat eine klassische, aber auch moderne Schönheit. Seit Innocence fühlte ich mich mit ihrem Typ Frau vertraut und wollte mehr mit ihr arbeiten. Sie hat sich verändert, aber sie ist auch immer noch dieselbe, und ich habe das Gefühl, dass wir irgendwie verbunden sind.

Wie bist Du auf Clara Pacini gestoßen?

Ich brauchte eine Schauspielerin, an die man glauben kann; jemanden, der das Star-Potenzial hat – und in Frankreich gibt es nicht viele wie sie. Clara erinnert mich an die junge Natalie Portman. Sie bringt eine Mischung aus Anmut und einem frechen Teenager-Charakter mit, was sie sehr interessant macht. Sie hat eine besondere Fähigkeit, Emotionen subtil zu vermitteln, und ich finde, sie ist wunderschön in ihrer eigenen Art.

Ich würde gerne ein wenig über die Einflüsse des Films reden. Ich selbst habe mich an vieles Verschiedenes erinnert gefühlt. Hitchcock, ein bisschen Bergman, aber auch Gemälde aus der Romantik. Was hast Du mitgenommen, um diese Welt zu erschaffen?

Es gibt viele Referenzen, besonders zu Hitchcock, mit dem ich aufgewachsen bin. Aber auch anderes. Zum Beispiel ist das Poster von Die roten Schuhe (1948) im Film zu sehen – vielleicht als eine Art symbolischer Verbindung zu Theaterstücken. Allgemein sind Powell und Pressburger ein großer Einfluss. Auch für die Beziehung zwischen Realität und Kunst, ähnlich wie in Die schwarze Narzisse, wo das Set die Regie beeinflusst. Aber die größte Inspiration für mich ist die Natur und das Wasser. Ich bin in der Nähe des Meeres aufgewachsen und fühlte mich von der Natur und deren Symbolik in der Kunst immer verbunden. Natur kann die Emotionen eines Charakters widerspiegeln, und sie bildet einen Gegenpol zu den statischen Sets. Das Kino ist eine „große Lüge“, aber es erzählt tiefere Wahrheiten auf eine einzigartige Weise.

Ist das der Grund, warum der Film so zwischen Traum und Realität pendelt?

Ja, ich denke, wenn man einen Film oder ein Gemälde macht, oder auch wenn man nicht versucht, hyperrealistisch zu sein, ist es irgendwie immer eine Fälschung. Aber es ist eine gute Fälschung in dem Sinne, dass es eine Wahrheit hat. Es ist die Wahrheit innerhalb der Fälschung.

Ich glaube, wenn ein Film sich dieser „Falschheit“ bewusst ist, dann ist er ehrlicher als etwas, das vorgibt, echt zu sein.

Vielleicht, ja. „Echtes“ Kino ist sehr schwer, weil man immer einen Rahmen setzt. Man schaltet die Kamera ein.

Wir bedanken uns herzlich für das Interview! Der Eisturm hat bisher noch kein offizielles deutsches Kinostartdatum. Bis es soweit ist, könnt ihr euch gerne den folgenden Teaser-Clip sowie die Pressekonferenz von der Berlinale anschauen.

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