Kritik: Emilia Perez (FR, MX 2024)

– gesehen im Rahmen der 77. Internationalen Filmfestspiele von Cannes –

Emilia Perez Jacques Audiard Film 2024

If he’s a wolf, he’ll be a wolf.

Jacques Audiard gilt als einer der herausragendsten (französischen) Regisseure der Gegenwart, der mit seiner Vielseitigkeit und seinem unnachahmlichen Stil spätestens seit Der wilde Schlag meines Herzens (2005) das gegenwärtige europäische Kino nachhaltig geprägt hat. Seine Filme bestechen durch tiefgründige Charakterstudien, innovative Erzähltechniken und eine starke visuelle Sprache. Und so verwundert es auch nicht, dass Audiard bereits mehrfach mit renommierten Preisen ausgezeichnet wurde, darunter die Goldene Palme für Dheepan (2015) und der Große Preis der Jury für Ein Prophet.

Jacques Audiard überschreitet oft Genregrenzen und behandelt mit großer Sensibilität soziale und politische Themen, die seine Werke nicht nur zu intensiven Kinoerlebnissen, sondern auch zu essentiellen gesellschaftlichen Kommentaren machen. Als bekannt wurde, dass Jacques Audiards neuester Film ein in Mexiko spielendes Gangster-Musical sein würde, waren meine Erwartungen entsprechend hoch. Das könnte doch nur der Genremix des Jahres werden… Dass Emilia Perez bei seiner Weltpremiere in Cannes meine ohnehin hohen Erwartungen noch übertreffen würde, hatte ich jedoch nicht erwartet. Jacques Audiard ist ein durchgehend bewegendes, kreatives, wunderbares queeres Narco-Musical gelungen, das in der Tradition von Jacques Demy steht – auf einem mexikanischen Marktplatz sind sogar bunte Regenschirme zu sehen. Audiard schafft es mühelos, zwischen Kartell-Drama und Musicalnummern zu wechseln, als wäre es das Natürlichste der Welt.

Emilia Perez erzählt von der mexikanischen Anwältin Rita (Zoe Saldaña), die hervorragend darin ist, Angeklagte aus der Schusslinie zu holen. Trotz ihrer eigenen moralischen Bedenken gegenüber Ungerechtigkeit hilft sie schließlich dem Drogenboss Manitas del Monte, der einen Neuanfang sucht, indem er sich einer geschlechtsumwandelnden Operation unterzieht. “Me falta cantar. Me falta desear.” (Mir fehlt das Singen, mir fehlt das Verlangen.) rappt er voller Verzweiflung und Schmerz, das Leben hat er sich als Kartelboss verwirkt. Jahre später, nach seiner Geschlechtsumwandlung, treffen sich die beiden wieder, und Emilia Perez, wie sich die Kriminelle nun nennt, strebt nun nach Wiedergutmachung: Sie möchte aktiv einige der Fehler wieder in Ordnung bringen, für die sie in ihrem früheren Leben verantwortlich war. Und so gründen die beiden gemeinsam eine NGO, die bei der Aufklärung von Vermisstenfällen hilft, die mit Kartellaktivitäten in Verbindung stehen.

Emilia Perez 2024 Selena Gomez

An dieser Stelle möchte ich nicht weiter auf die Handlung eingehen, so dass auch ihr in den maximalen Genuss von diesem überraschenden Sex-Change-Musicals kommt. Aber es gibt eh so viel darüber zu sagen, ohne die Geschichte im Detail verraten zu müssen. Jacques Audiard ist bekannt dafür, Genres radikal neu zu interpretieren, selbst vor einem Western-Projekt (The Sisters Brothers) schreckt er dabei nicht zurück. In jedem seiner Filme fordert er das Publikum heraus, sich mit komplexen Charakteren auseinanderzusetzen, die moralisch schwierige Entscheidungen treffen müssen oder in einer (ihrer) zerbrochenen Welt einen Neuanfang suchen. Mit Emilia Perez testet Audiard nach Der wilde Schlag meines Herzens und Ein Prophet erneut die Grenzen des Gangsterfilms aus und verleiht obendrein dem filmischen Musical eine völlig neue Dimension – dabei wird nicht nur eine vollkommen kreative, unvergessliche Tanz- sowie Gesangseinlage geboten.

Unter der meisterhaften Regie eines Audiard erweist sich das Musical auf sämtlichen Ebenen als so modern wie zuletzt nur Damien Chazelles La La Land. Doch Emilia Perez ist weit mehr als seine Inszenierung – u.a. ist das Musical-Melodram nämlich auch eine tiefgründige und ambivalente Auseinandersetzung mit der Transgender-Debatte. Audiard stellt mutig die Frage, ob eine Geschlechtsumwandlung wirklich einen Neuanfang bedeutet, oder nur eine Flucht vor inneren und äußeren Problemen, die uns gezwungenermaßen irgendwann einholen werden. Kann ein Massenmörder einfach so vor seiner Vergangenheit davonlaufen, indem er sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht? Das ist hier die Frage. Zudem setzt sich Emilia Perez mutig mit Themen wie politischer Korruption und der kapitalistischen Ausbeutung (psychisch) kranker Menschen auseinander. Zoe Saldañas mitreißender Auftritt bei einer NGO-Gala zählt hierbei zweifellos zu den eindrucksvollsten Szenen des Jahres. Natürlich nicht minder eindrucksvoll ist Karla Sofía Gascón in der Rolle der Emilia.

Fazit: Jacques Audiards Gangster-Transgender-Musical ist nicht nur einer der besten Filme im Schaffen des französischen Regisseurs. Mit einer einzigartigen Mischung aus Spannung, Emotionen und gesellschaftlicher Relevanz setzt Audiard neue Maßstäbe in den angesprochenen Genres. Emilia Perez ist nicht nur ein visuell und akustisch beeindruckendes Erlebnis, sondern auch eine ambivalente, tiefgründige Erkundung von Identität und Neuanfang. Es wird dieses Jahr sicherlich nicht viele Filme geben, die so couragiert, wuchtig und von Belang sind. Emilia Perez stellt (um es mit einem Zitat aus dem Film abzuschließen) “Ein Gericht des Gewissens” da – und das ist in fast jeder Hinsicht génial!

★★★★★★★☆

Emilia Perez startet am 28. August 2024 in den französischen Kinos. Wann der Film nach Deutschland kommt, ist noch unbekannt.

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