Kritik: Quo Vadis, Aida? (BIH 2020) – Die offene Wunde Europas

Eine Gastkritik von Sascha Böß

In der für den besten fremdsprachigen Film Oscar-nominierten internationalen Koproduktion Quo Vadis, Aida erzählt die bosnische und mehrfach ausgezeichnete Regisseurin Jasmila Žbanić (Esmas Geheimnis, 2006; Zwischen uns das Paradies, 2010) die folgenschweren Ereignisse um Srebrenica während des Bosnienkriegs im Juni 1995, die später als Völkermord bzw. Genozid von Srebrenica in die europäische Geschichte eingehen sollten, bei dem mehr als 8000 muslimisch-bosnische Jungen und Männer im Alter von 13-78 Jahren ermordet wurden.

Was dieses Drama dabei von Anfang an von anderen Kriegsfilmen unterschiedet, ist die weibliche Perspektive und das in gleich dreifacher Hinscht: Nicht nur die Regisseurin und die Kamerafrau (Christine A. Maier) bestimmen unseren Blickwinkel, auch die Hauptfigur, unser Mittelpunkt in diesem oft chaotischen, hetzenden Film, ist eine Frau: Aida Selmanagić (gespielt von Jasna Đuričić) ist Lehrerin in Srebrenica und darüber hinaus als Übersetzerin für die in der Nähe stationierten niederländischen Blauhelmsoldaten der Vereinten Nationen tätig. Der Film basiert lose auf dem Buch “Under The UN Flag: The International Community and the Srebrenica Genocide“ von Hasan Nuhanović, der ebenfalls Übersetzer für die UN war und die folgenden Ereignisse miterlebt hat.

Der Film beginnt mit der Flucht der muslimischen Bosniaken aus der Stadt Sebrenica vor der anrückenden und brutalen bosnisch-serbischen Armee unter dem General Ratko Mladić. Vermeintlichen Schutz finden die über 20.000 Flüchtlinge am und auf dem Gelände der niederländischen UN-Soldaten in Potočari, welches als Schutzzone ausgewiesen ist. Darunter ist auch Aida mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen. Gewissenhaft versucht sie zwischen UN-Soldaten und Bosniaken zu vermitteln und zu dolmetschen. Doch dann stehen die bewaffneten bosnisch-serbischen Truppen vor dem Lager und drängen dazu hineingelassen zu werden, um zu prüfen, ob unter den Flüchtlingen feindliche Soldaten sind Die unter Druck gesetzten Blauhelmsoldaten unter dem niederländischen General Thomas Karremans knicken ein. Damit ist das Schicksal vieler tausender Menschen besiegelt.

Was jetzt folgt, ist der Kampf einer mutigen, getriebenen Frau, die gefangen in dem von Männern geführten Krieg, gefesselt durch die von Männern verfassten Regeln, Ordnungen und Bedingungen, versucht, wenigstens das Leben ihres Mannes sowie ihrer Söhne zu retten. Zwischen Bürokratie, Verwirrung und Ohnmacht wechseln sich leichte Hoffnung und Verzweiflung bei Aida immer wieder ab, während draußen die Selektion durchgeführt wird und die Flüchtlinge unter Anleitung der bosnisch-serbischen Armee und unter den hilflosen Blicken der UN-Soldaten in die Busse geführt werden.

Quo_Vadis_Aida_Film_2020

Als Übersetzerin ist Aida eine Vermittlerin zwischen den Parteien, aber sie merkt nach und nach, wie sie dadurch den Menschen nicht mehr helfen kann, sondern von beiden Seiten missbraucht wird. Sie wird sich bewusst, wie Worte gefährlich zweideutig werden, wie der Zynismus überhand gewinnt und wie Euphemismen sich in tödliche Lügen verwandeln. Schlussendlich sind Worte völlig nutzlos geworden, denn die materielle Macht liegt in den Gewehrläufen der Soldaten.

„Quo vadis, Aida?“ (Wohin gehst du, Aida?)

Der Akt der Bewegung ist in diesem Film mindestens dreifach zu verstehen:
1. Zum einen zu Beginn des Filmes als Flucht, wenn Aida, mit vielen tausenden anderen Flüchtlingen mit ihrem wenigen Hab und Gut ihr Zuhause verlassen muss und in die UN-Schutzzone flieht.
2. In der Mitte des Films rennt sie durch Gänge, Hallen, Büros, an die Schranke und die Zäune, immer rastlos, immer getrieben ihre Familie zu retten.
3. Am Ende des Films, als sie ihr ehemaliges Zuhause besucht, indem nun eine serbische Familie lebt. Der Akt der Bewegung vollzieht sich aber hier in erster Linie innerlich: Sie ist verbittert, traurig und wütend, aber kann sie auch vergeben? Hier steht Aida pars pro toto für die ganze bosnische und serbische Gesellschaft. Ist man bereit aufeinander zuzugehen und kann somit die tiefe Kluft zwischen den beiden geschlossen werden?

Die letzten Minuten des Filmes vermögen es, einen Funken Hoffnung zu geben, doch die Regisseurin Jasmila Žbanić ist in einem Interview mit dem ZDF¹ pessimistisch: Der Völkermord von Srebrenica könnte heute wieder geschehen, denn die Atmosphäre des Hasses, die von rechten Politikern befeuert wird, herrsche immer noch zwischen den Volksgruppen, man fühle sich immer noch wie in Kriegszeiten.
Von serbischer Seite wird der Genozid immer noch geleugnet. Auch der österreichische Schriftsteller Peter Handke ist in den letzten Jahren immer wieder mit provozierenden und verharmlosenden Aussagen diesbezüglich in der Presse bekannt geworden.² Eine Verhöhnung an all jene Menschen, die ihre Familienangehörigen durch dieses Massaker verloren haben. Manche von ihnen haben auch an diesem Film mitgewirkt und mitgespielt und zeigten der Regisseuren, wie sie das Drama damals erlebt haben.

„Frieden kann nur kommen durch Wahrheit und Gerechtigkeit“¹ sagt Jasmila Žbanić. Mit diesem Film verfolgt sie den hohen Anspruch, die Wahrheit zu zeigen und damit der Versöhnung zwischen Bosniern und Serben etwas Essentielles beizutragen. Dadurch, dass der Film durch die Oscar-Nominierung international bekannt wurde, gibt es die Hoffnung, dass ihn die richtigen und wichtigen Personen zu sehen bekommen.

Fazit: Quo Vadis, Aida? ist ein intensives, starkes, aber auch belastendes Kriegsdrama über den Genozid von Srebrenica aus weiblicher Perspektive erzählt. Ein Film, der gegen das Vergessen und Leugnen einer noch sehr frischen Wunde mitten in Europa ankämpfen will. Meisterhaft zeigt Jasmila Žbanić, wie ein Ort der vermeintlichen absoluten Sicherheit sich erst unbemerkt, aber stetig in einen Ort des Todes verwandeln kann. Dieser Vorgang lässt sich selbstverständlich auch universell auf eine gesellschaftliche Ebene heben und sollte uns allen als Warnung dienen.

Quo Vadis, Aida? startet am 5. August 2021 deutschlandweit in den Kinos. Ab dem 17. Dezember 2021 ist der Film zudem für das Heimkino erhältlich.*

Hier geht es zum Trailer auf Youtube.

¹: https://zdf.de/verbraucher/volle-kanne/quo-vadis-aida-100.html

²: https://tagesspiegel.de/kultur/interview-von-2011-aufgetaucht-peter-handke-und-die-ketzerbriefe-alles-nicht-so-gemeint/25158590.html

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