Kritik: The Holdovers (USA 2023)

Eine Gastkritik von Michael Gasch – erstmals zu lesen am 3. Dezember 2023

The Holdovers Film 2023 Paul Giamatti

Most of the kids dislike you, pretty much hate you.

Alexander Paynes Opus magnum Sideways wird nächstes Jahr 20 Jahre alt. Eine Glanzleistung, die seine Nachfolger, angefangen mit The Descendants über Nebraska bis hin zu Downsizing, bis zum heutigen Tag überstrahlt. Vielleicht fehlte einfach nur Paul Giamatti – darüber lässt sich nur spekulieren. Erfreulicherweise lässt sich in Hinblick auf Paynes neues Werk sagen: The Holdovers, in dem die längst überfällige Wiedervereinigung zwischen Regisseur und Schauspieler zelebriert wird, knüpft genau dort an, wo Sideways aufhörte. Und wir bekommen einen Herzensfilm, der passend zur Weihnachtszeit angesetzt wurde. Nur schade, dass der deutsche Verleiher geschlafen hat und The Holdovers erst am 25. Januar in die deutschen Kinos kommen wird.

Die Geschichte lässt sich dabei kurz und bündig zusammenfassen, Paynes scharfen Fokus sei Dank. Paul Hunham (Paul Giamatti) ist Geschichtslehrer an der Deerfield Academy in Neuengland, einer privaten High School. Da er bei vielen seiner Kollegen nicht sonderlich beliebt und dazu familienlos ist, wird er mit der Aufgabe betreut, einige Schüler über die anstehenden Feiertage zu hüten. Nachdem die meisten Schüler eines Tages urplötzlich von ihren Familien abgeholt werden, bleibt nur noch der nicht minder beliebte Angus Tully (Dominic Sessa) übrig. Fortan verbringen sie gemeinsam mit Mary, der Leiterin der Kantine (Da’Vine Joy Randolph), die Feiertage auf dem ausgedehnten Schulgelände.

Nachdem Paul Giamatti bereits in Sideways einen Lehrer verkörperte, darf er noch einmal ran. In der Rolle als Lehrer für antike Geschichte muss er schauspielerisch wie mental nicht viel dazu dichten. Nur eines ist anders: Das hohe Alter hat schon einige Spuren bei ihm hinterlassen. Es ist damit eine Coming-of-Age-Geschichte im doppelten Sinne. Auf der einen Seite geht es um den Schüler Tully, der sein ganzes Leben noch vor sich hat und auf der Suche nach dem rechten Fleck auf Erden ist. Auf der anderen Seite lotet Payne das Genre weiter aus, indem er auch das Wachsen oder Reifen im hohen Alter thematisiert. Das Gute dabei ist, dass sich direkt sagen lässt, was The Holdovers nicht ist: Nämlich kein Film, der sich „nur“ auf den Generationskonflikt fokussiert; ebenso wenig ist es ein (übertrieben) moralisierender Film, der sich mit jugendlicher Ungehorsamkeit und erwachsener Reife beschäftigt. Ein Film mit übertriebener Sentimentalität und Gefühlsduselei schon gleich gar nicht, und am allerwenigsten ein Film, in der eine typische Weihnachtsgeschichte, samt Herzlichkeit oder Tröstlichkeit verhandelt wird.

Doch worum geht es dann? Es ist eine komplexe Frage, auf die es keine einfache Antwort geben kann: Vergangenheitsbewältigung, Zynismus, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Konservatismus, Integrität, schlichtweg das Leben, welches von Payne unter die Lupe genommen wird. Dazu die Kirsche auf der Torte: der typische Payne-sche Humor, der nicht gerade wenig Zeit braucht, um warmzulaufen. Dreißig Minuten kann dies schon dauern und wenn es dann einmal losgeht, kann die Frage, die im Kopf auftaucht, schon verwundern: Warum lache ich eigentlich gerade? Erneut zeigt sich, dass Payne nicht in Kategorien wie lustig oder unlustig denkt, sondern sich außerhalb dieser Konventionen aufhält. Es mag an der Sprache liegen, die mal mehr, mal weniger gehoben ausfällt, doch dann mit urplötzlichen Wutausbrüchen und harschen Ausdrücken der Figuren konterkariert wird.

Die eigene Antwort oder Interpretation auf die Frage, um welchen Typ es sich bei dem Lehrer handelt, nimmt nicht minder viel Zeit in Anspruch. Anfänglich noch ein Griesgram, der Freude am Missgeschick seiner Schüler findet, entwickelt sich Giamattis Rolle weiter. Payne greift dafür aber nicht etwa auf stereotypische Elemente (man denke nur an die fade Phrase „harte Schale, weicher Kern“) oder Klischees zurück, vielmehr entsteht der Eindruck, er hätte sich an einem heuristischen Trick bedient, welcher als “Ockhams Rasiermesser” bezeichnet wird. Vereinfach ausgedrückt und auf eine Filmfigur bezogen, bedeutet das nichts weiter, als dass ein Charakter mit möglichst wenigen Variablen oder Eigenschaften auskommt, um zu funktionieren.

Das lässt sich im Grunde genommen auf den gesamten Film übertragen, da aus wenig Input großer Output erzeugt wird. Filmisch wie narrativ fällt The Holdovers selten komplex aus – doch wie könnte es auch anders sein, schaut man auf seine anderen Werke zurück. Wenn überhaupt, geht es Payne nur selten um das Ergründen menschlicher Komplexität, sondern um etwas anderes – man könnte es wohl “einen Moment der Harmonie” nennen. Um diese Harmonie am Ende nicht mit zu viel Diskussion und Substanz zu stören, tritt Payne, wie schon in Sideways, einen Schritt zurück – eine unverkennbare und mutige Entscheidung in seiner filmischen Handschrift. Statt eine Auflösung oder gar eine Contrivance zu bieten, steht Payne auch hier über derartigen Konventionen.

Die Koffer schon längst gepackt (metaphorisch gesprochen), gleicht das unspektakuläre Ende von The Holdovers dem unspektakulären Anfang. Eigentlich hat sich nicht viel geändert und doch so viel. Nur eines steht fest und zwar, dass die Suche nach dem rechten Platz auf Erden weitergeht. Paynes bis dato zweitbester Film stellt sich damit als durch und durch rund heraus. Trivial mag mein letzter Satz nun klingen, doch er ist als herzliches Lob zu verstehen: Paynes neuestes Werk kann zwar weder mit Antworten, noch mit Weisheiten dienen, dafür aber mit einem großen Herz am rechten Fleck.

The Holdovers startet am 25. Januar 2024 deutschlandweit in den Kinos.

★★★★★★★☆

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