Eine Gastkritik von Hendrik Warnke – erstmals zu lesen am 17. Oktober 2023
Es ist das Jahr 2200. Die Menschheit hat den Mars bevölkert, Staaten scheinen weitestgehend durch Konzerne ersetzt zu sein, bionische Erweiterungen des Körpers sowie künstliche Intelligenz stehen auf der Tagesordnung und wenn es finanziell mal knapp werden sollte, kann man einfach die eigene Gehirnkapazität vermieten – ein Traum. Was könnte so eine Gesellschaft nur ins Wanken bringen? Ach ja, Androiden, die auf einmal ihre Programmierung überschreiben und Amok laufen vielleicht. Mitten in diesem gesellschaftlichen Schnellkochtopf auf der Suche nach einer verschwundenen Robotics-Studentin finden sich Privatermittlerin Aline (Léa Drucker) und ihr Partner Carlos (Daniel Njo Lobé). Sie Alkoholikerin, er geschieden und KI, geschaffen auf der Grundlage seines verstorbenen Ichs, beide also mit nicht wenig persönlichem Ballast.
Ein Sci-Fi-Neo-Noir-Thriller, wie er im Buche steht. Doch Mars Express darauf zu reduzieren, was für Assoziationen er weckt, ist nicht nur genauso bescheuert wie diese Genre-Zuweisung, sondern aufgrund der schieren Menge der Assoziationen einfach nicht ausreichend. Von offensichtlichen Highlights wie Blade Runner und Ghost in the Shell über ältere Klassiker wie Metropolis bis hin zu diversen franko-belgischen Comics ist hier fast alles wiederzuerkennen, was irgendetwas mit Science-Fiction und/oder Film noir zu tun hat. Und ja, Mars Express erfindet das Rad definitiv nicht neu, er kombiniert bekannte Elemente aber in einer Komplexität und Vielzahl, wie sie nicht häufig zu finden sind. Und das gelingt ihm insgesamt herausragend gut.
Wenn man so will, ist der Plot noch am bescheidensten. Der fühlt sich nämlich am ehesten bekannt an und ist in Teilen auch etwas vorhersehbar. Uninteressant ist er aber dennoch nicht, die anderen Aspekte überstrahlen ihn nur deutlich. Die Figuren, zumindest die beiden Hauptfiguren, sind toll geschrieben und entziehen sich vielen gängigen Genrestandards bzw. invertieren diese. Der wahre Star des Drehbuchs ist aber das Worldbuilding. Denn die Welt, die die beiden Drehbuchautoren Jérémie Périn und Laurent Sarfati hier kreieren, funktioniert wahnsinnig gut. Die wichtigsten Fragen zu ihrer Systematik werden stets so beantwortet, dass ein gewisses Maß an Spannung erhalten bleibt, die Suspension of disbelief aber nicht überstrapaziert wird. Zu verdanken ist das dem wahnsinnig guten Timing des Drehbuchs, das Probleme etabliert, diese aber in den richtigen Momenten auflöst bzw. weiterentwickelt.
Durch diese Art der Problem- und Regeletablierung gelingt es Mars Express außerdem, sehr viele thematische Schwerpunkte zu setzen, ohne zu überladen zu wirken. Vieles wirkt sehr natürlich in die Handlung eingebaut, weil es nun mal Teil der Welt ist. Beispielsweise fokussiert sich der Film gar nicht allzu sehr auf seine Kapitalismuskritik, zeigt aber wunderbar, wie zu wenig regulierte Privatisierung und Vermögensungleichheit ein völlig fragiles Gesellschaftssystem bedingen. Die Frage, ob unsere Gesellschaft unter den derzeitigen Voraussetzungen für eine voranschreitende Technologisierung, die uns im Kern vor existenzialistisch komplexe Fragen wie „Wo hört das Menschsein auf?“ stellt, bereit ist, wird klar verneint.
Spannend daran ist, dass der Film niemals nur existenzpessimistisch ist. Viel mehr stehen die eben schon beschriebene Fragilität der Existenz und unsere Möglichkeit sowie Verantwortung, diese zu wahren sowie die potenzielle Gefahr, mit der diese Wahrung einhergeht, im Fokus. Konkret heißt das Folgendes: Wenn ich mein Bewusstsein jederzeit und beliebig oft in eine künstliche Intelligenz transferieren kann, die mit meinen Erinnerungen, meinem Wertesystem und meinen Vorlieben unendlich lange weiterlebt, welchen Wert hat mein Leben und das Individuum als solches dann noch? Die simple Antwort: Keinen (inhärenten).
Als Handlungsmöglichkeit eins folgt hier die nihilistische: Das Leben und das Individuum sind wertlos, es gibt also keinen Grund, sich an Dinge wie Moral oder Gesellschaft zu klammern. Man lebt nur noch für den Moment, für die reine Bedürfnisbefriedigung.
Als Handlungsmöglichkeit zwei folgt die existenzialistische: Das Leben und Individuum sind wertlos, es liegt an uns, ihnen Wert zu geben, indem wir Dinge wie Moral und gesellschaftliche Regeln etablieren.
Vermutlich bevorzugen die meisten Menschen, mich eingeschlossen, Handlungsmöglichkeit zwei. Interessant ist aber, dass diese Handlungsmöglichkeit eine enorme Gefahr für arbiträre Regeln und Marginalisierung birgt. Wenn es auf einmal um die eigene Existenzdefinition geht, liegt es nah, mit Zugehörigkeitskriterien zu arbeiten. Sprich: Wer ist Mensch und wer ist es nicht. Bzw. weitergedacht: Wer hat Menschenrechte verdient und wer hat es nicht? Und genau diese Ambivalenz in Handlungsmöglichkeit zwei zeigt Mars Express auf. Es ist kein zielloses, pseudophilosophisches Fragen nach der „Essenz des Menschseins“. Vielmehr ist es die Frage, ob bzw. wie wir uns diese Frage stellen sollten. Und das ist es, was Mars Express so besonders macht. Denn auf diesen inhaltlichen Kern sind sämtliche andere Aspekte abgestimmt. Seien es die Figuren selbst, die versuchen ihrem Leben Bedeutung zu geben, die Handlung mit ihrem fantastische Ende oder die grundsätzliche Stimmung des Films, die nicht in mittlerweile schon als solchen zu bezeichnenden Cyberpunk-Kitsch verfällt, sondern sich stets auf der Grenze von eben jener schmutzigen Cyberpunk-Ästhetik und deutlich cleaneren, meist positiv besetzten Zukunftsvorstellungen bewegt.
Grundsätzlich sollte die Optik des Films nochmals hervorgehoben werden. Die gezeichneten Hintergründe und Figuren ergänzen sich hervorragend mit den oftmals dreidimensionalen Animationen und Kamerabewegungen und wirken allesamt wohlüberlegt und sehr wertig. Die insgesamt fünf Jahre Produktionszeitraum sind eindeutig zu sehen. Angefangen vom beschriebenen visuellen Konzept über zahlreiche kleine Details und Gimmicks, die nicht unbedingt thematisch oder zur Handlung beitragen, aber einfach dafür sorgen, dass die Welt sich umso echter anfühlt, bis zur konkreten technischen und inszenatorischen Umsetzung – hinter Mars Express stecken umfangreiche Überlegungen, tiefgehendes Know-how und viel Herzblut. Alle Fans von Animations- sowie von Science-Fiction-Erzählungen sollten Jérémie Périns Kinodebüt im Auge behalten, denn auch wenn es nicht perfekt ist, wirkt es einfach wahnsinnig frisch und zeigt, wie sehr ein gutes Konzept und ein tolles Worldbuilding einen Film tragen können, insbesondere in den beiden aktuell doch ziemlich eingestaubten Genres (gerade erst enttäuschend: Gareth Edwards The Creator).
Fazit: Mars Express ist sicherlich nicht der beste Film des Jahres, aber vielleicht ist er der, den ich am meisten gebraucht habe. Gerne mehr davon!
★★★★★★★☆
Mars Express startete am 22. November 2023 in Frankreich im Kino. In Deutschland läuft der Film ab dem 25. April 2024 in ausgewählten Kinos und erscheint nur zwei Monate später, am 6. Juni 2024 fürs Heimkino.