Eine Gastkritik von Michael Gasch
– gesehen im Rahmen der 77. Internationalen Filmfestspiele von Cannes, Kritik erstmals zu lesen am 22. Mai 2024 –
You broke my nose!!!
Der deutsche Kabarettist Volker Pispers sagte einmal: „Wenn der Feind bekannt ist, hat der Tag Struktur“. Während Russland nicht nur im realpolitischen Geschehen als das Feindbild schlechthin angesehen wird, gibt es nicht gerade wenig Filme, die sich an dieser Konstruktion bedienen. Von Stirb langsam – Ein guter Tag zum Sterben bis hin zu Tödliche Versprechen – Eastern Promises ergibt sich eine breite Depiktion, mit der sich viele Grautöne russischer Stereotype festhalten lassen. Das Drama Anora, das auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes seine Premiere feierte, bricht mit all diesen Konventionen und zeichnet ein gänzlich anderes Bild über eine reiche Oligarchen-Familie aus Russland.
Anora oder auch kurz Ani (Mikey Madison) ist Stripclub-Tänzerin und gerät eines Tages an den jungen Ivan (Mark Eydelshteyn). Beide ziehen sich selber in den Bann, es bleibt nicht bei der Stunde kurzweiliger Bedürfnisbefriedigung. Nachdem sie kurzerhand später heiraten, ruft das die Eltern Ivans auf den Plan. Fakt ist: Dieser Ehebund war ein Fehler und so folgt eine nächtliche Irrfahrt quer durch New York, um den Status quo wiederherzustellen.
Mit Neonfarben, Clubmusik, Alkohol und Figuren, die befriedigt werden wollen, steigt Sean Baker (The Florida Project) in das Geschehen ein. Mit den Stationen vom Club ins Bett (natürlich einer stinkteuren Luxusvilla), vom Bett ins Casino (natürlich in Las Vegas), vom Casino in eine Hochzeitskapelle, verleibt sich Anora die Konventionen klassischer Hollywoodfilme der letzten Jahrzehnte präzise ein (Erinnerungen an beispielsweise Tolle Nächte in Las Vegas oder Hangover werden wach).
Jene Konventionen werden alsbald über Bord geworfen, als die russischen Eltern von dieser Hochzeit Wind bekommen. Igor und Garnick als Lakaien des Oligarchen-Vaters betreten die Bühne und eigentlich kann man sich denken, was nun folgen wird: Mit Russen ist nicht gut Kirschen essen. Während der junge Oligarchen-Sohn außer Gefecht gesetzt wird, erlebt die Frau die schrecklichsten Stunden ihres Lebens. Falscher Film, so würde es wohl in jeder anderen Produktion aussehen. Die Konventionen durchbrechend, überrascht Anora mit einer sehr gelungenen Leichtfüßigkeit aus früheren Screwball-Komödien (es gibt sogar eine unglaublich komische Gerichtsszene, wie in Peter Bogdanovichs Is’ was, Doc?), die sich bis zum Ende hindurchzieht.
Gewalt, Drogen und Waffen kommen in Anora nicht vor – es ist das erste Anzeichen, dass wir es mit keiner typischen Produktion zu tun haben. Dass die Lakaien einen fast schon pazifistischen Eindruck erwecken, hält konstant humoristisches Potential bereit, was sich fortan wie ein roter Faden durch den Film zieht. Lösungsorientierung sieht hier also gänzlich anders aus als in jedem anderen Film mit Russen, die Probleme aus der Welt schaffen wollen. Doch wie lassen sich solche Probleme sonst lösen? Natürlich mit Kommunikation! Habt ihr nicht aufgepasst, was uns Therapeuten schon jahrelang versuchen mitzuteilen?
Nachdem der junge Ivan flüchtet und Anora sich mit der russischen Familie herumschlagen muss, folgt eine Odyssee quer durch New York, die immer wieder irrwitzige Momente parat hält. Erreicht wird dies auch mit dem Ansatz, Destruktivität so gut wie es nur geht einen Riegel vorzuschieben. Ganz ohne geht es natürlich nicht und so erleidet beispielsweise einer der Lakaien eine gebrochene Nase. Erzürnt stürmt der Lakai auf die Frau und misshandelt sie auf brutalste Weise. Nein, nein, nein! Schon wieder der falsche Film! Anora bleibt konsequent und führt auch diesen Gewaltausbruch mit Rührseligkeit in eine andere Richtung. Spätestens jetzt solltet ihr merken, dass Sean Baker ganz genau um die Konventionen Bescheid weiß und diese clever umkehrt. Anora ist damit ein herausragender Beitrag über Realitätskonstruktion und das Spiel mit filmischen Erwartungen und stellt sich als einer der besten Filme auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes heraus.
Kinostart: 31. Oktober 2024
Regie: Sean Baker
Darsteller: u.a. mit Mikey Madison, Mark Eydelshteyn und Yura Borisov
FSK-Freigabe: ab 16
Internationaler Verleih: Filmnation Entertainment
Dt. Verleih Kino: Universal Pictures Germany
Laufzeit: 2 St. 19 Min.
★★★★★★★☆