21.05.17, Tag 4, es ist Halbzeit in Cannes, zumindest für mich, der während der letzten beiden Festivaltage nicht mehr in Cannes sein wird. Ob ich das schade finde? Höchstens deshalb, weil ich ausgerechnet einen meiner meisterwarteten Filme, Roman Polanskis neusten Erotikthriller Based on a true story mit Emmanuelle Seigner und Eva Green, voerst nicht zu Gesicht bekommen werde. Ansonsten aber waren die bisherigen Tage sehr erlebnisreich, insbesondere die letzten beiden Tage hatten es in sich, weshalb sogar nach und nach die ersten Müdigkeitsmomente bei mir auftreten.
Nun aber erst einmal zum 20.05., mein Tag 3, der aus filmischer Sicht nicht besser hätte starten können. So wie bisher jeden Tag um 8:30 Uhr, erwartete mich erneut früh morgens ein Wettbewerbsbeitrag, so an diesem Tag das AIDS-Aktivistendrama 120 battements par minute (120 Beats Per Minute), ein detailliert beschriebener, spektakulärer, aber auch trauriger Einblick in das Leben einiger Mitglieder der Pariser Act Up Bewegung, die sich Anfang der 90er Jahre durch öffentlichwirksame Aktionen für ein größeres Engagement für AIDS Kranke einsetzte. Und damit hätten wir nach Todd Haynes Wonderstruck den für mich bereits zweiten ernstzunehmenden Anwärter auf die goldene Palme. 120 battements par minute überzeugt durch seine bedingungslose Offenheit, einerseits bei der kraftvollen, realitätsnahen Regie, insbesondere aber dann vor allem durch die einnehmenden Performances aller Darsteller. Regisseur Robin Campillo schickte das Cannes-Publikum auf einen fast zweieinhalbstündigen, ebenso eindringlich politischen, wie auch schmerzhaften Trip, der nichts, aber auch gar nichts kaschiert – nicht die verlogene, profitgeile Pharmaindustrie, vor allem aber auch nicht das grauenvoll langsame Sterben von AIDS-Kranken. Trotzdem ist 120 battements par minute am Ende ein Film voller Hoffnung, packend und voller Emotionen, der in Cannes niemanden kalt gelassen hat. Das wurde einem sofort klar, als die Masse an Presseleuten nachdenklich-schweigend das Grande Théâtre Lumière verlassen hat.
Vollkommen uneinig sind sich alle hingegen, was die Qualität von Ruben Östlunds Gesellschaftskomödie The Square betrifft. Mir geht es da nicht anders. Östlunds neuer Film will vieles auf einmal sein und ist am Ende dann doch nichts. Einzelne Szene für sich funktionieren zwar ganz gut, doch ein überzeugendes Konstrukt steht in The Square am Ende leider nicht. Es ist das beste Beispiel für einen Film, der viele gute Ansätze zu bieten hat, aufgrund der Unentschlossenheit des Regisseurs jedoch kaum funktioniert und extrem viel Geduld vom Zuschauer einfordert. Ausgerechnet der nächste Film sollte dann zeigen, wie man es besser macht und wie aus nur einer guten Idee ein brillanter Film entstehen kann. Agnès Varda, mittlerweile die Großmutter der Nouvelle Vague, nimmt uns in der Dokumentation Visages, Villages (Faces Places) auf einen humorvollen Roadtrip in abgelegene Winkel Frankreichs, mit zu von der Gesellschaft vergessenen Menschen – darunter Minenarbeiter, Farmer, Hafenarbeiter und Rentner – denen sonst wohl niemals jemand Beachtung geschenkt hätte, und führt uns damit auf eine minimalistische Art und Weise, mit dem französischen Streetart-Künstler JR an ihrer Seite, die unbändige Kraft der Kreativität vor Augen. “Das Leben ist, wie man die Dinge sieht.” Visages, Villages ist wahrlich eine herausragende, aus der Spontaneität zweier Künstler heraus enstandene Dokumentation, eine unvergessliche Liebeserklärung, ja sogar ein Denkmal, an die Fotografie und die bisher größte Überraschung des Festivals!
Mit den Gedanken noch bei Visages, Villages und mit einem überteuerten, wenig schmackhaften Döner mit Pommes à la francaise in der Hand, machte ich mich gestern Abend auf den Weg zu meiner letzten Vorstellung des Tages, der Weltpremiere des als Komödie angelegten Godard-Biopics Le Redoutable. Es lief wie bisher alles nach Plan, doch plötzlich kamen Sicherheitsangestellte aus dem Gebäude und ließen den Bereich vor dem Haupteingang großräumig absperren. Angeblich wegen Bombenalarm, da eine besitzerlose Tasche im Kinosaal gefunden worden sei. Das Chaos und die Verwirrung waren auf jeden Fall perfekt. Und ich war mittendrin live dabei. Nicht unbedingt das Erlebnis, welches ich mir erhofft hatte. Mit extremer Verspätung wurde die Masse an Presseleuten, nachdem sich das Ganze als falscher Alarm herausgestellt hatte, dann doch noch ins Kino gelassen. Und es erwarteten uns zwei sehr unterhaltsame Filmstunden. Michel Hazanavicius widmet sich in Le Redoutable, wie schon bei seinem oscarprämierten The Artist, humorvoll und detaillierverliebt einem bedeutsamem Teil Kinogeschichte. In Le Redoutable zerlegt und hommagiert Hazanavicius genussvoll den Mythos um den Nouvelle Vague Meister Jean-Luc Godard, und schildert den Übergang von dessen Früh- zu dessen Spät-Werk. Gelegentlich verläuft diese Schilderung zwar etwas zu Biopic-typisch, es ist jedoch trotzdem dauerhaft ein Spaß dabei zuzusehen, wie in Le Redoutable die politischen Spät-60er aus Godards Perspektive geschildert werden. Obendrein bietet Louis Garrel als Jean-Luc Godard eine unvergessliche Vorstellung. Ingesamt also alles andere als ein perfekter, aber dee optimale Film, um einen langen Tag abzuschließen. Allerdings erwartete mich dann noch die nächste Überraschung des Tages: das komplette Schienennetz der SNCF lag für mehrere Stunden lahm, weshalb ich mit Hilfe des Schinenersatzverkehrs erst nach Mitternacht wieder im meinem Hotel war.
Der gestrige Tag, also mein Tag 4, war dann nach den Vortageshighlights 120 battements par minute und Visages, Villages und dem unerwarteten Erlebnissen zunächst einmal nur durch Enttäuschungen geprägt. Angefangen mit der Weltpremiere des Wettbewerbsbeitrags The Meyerowitz Stories, von dem ich mir einiges erhofft hatte, nachdem mich Regisseur Noah Baumbach mit seinem letzten Film, Mistress America (2015, damals in meiner Top 5 des Jahres), vollkommen verzückt hat. Doch dieses Mal sollte es wohl nicht sein. Und auch der darauffolgende japanische Alieninvasionsfilm Before We Vanish von Kiyoshi Kurosawa vermochte mich nicht sonderlich zu überzeugen. Die Grundidee, einen modernen, in der japanischen Gesellschaft angesiedelten Die Körperfresser kommen (1978) zu drehen, scheint zwar anfangs noch vielversprechend, doch recht schnell verliert sich der Film in der banalen Aussage, dass die Liebe die mächtigste Kraft in unserem Universum sei. Was der Film derweil an Potential auf der Strecke links liegen lässt, ist äußerst schade. Immer noch deutlich interessanter jedoch, als das darauffolgende italienische Familiendrama Fortunata, der bisher einzig wirklich schlechte Film, den ich auf dem Festival gesehen habe.
Auf welchen Film ich mich jedoch den ganzen Tag am meisten gefreut habe, ist die Musical-Komödie Jeannette: L’enfance de Jeanne d’Arc (Die Kindheit der Johanna von Orléans) von Ausnahmesregisseur Bruno Dumont (u.a. Humanität und zuletzt Die feine Gesellschaft). Und nicht nur meine hohen Erwartungen an den Film wurden erfüllt. Fast drei Minuten tosender Applaus war die Belohnung für Dumont, der persönlich bei der Vorstellung anwesend war. Selbstverständlich war die Reaktion des Publikuns am Ende jedoch nicht, denn Jeannette ist die bisher wohl radikalste Arbeit des Regisseurs, weshalb auch einige Zuschauer die Vorstellung vorzeitig verlassen haben. Dumont entführt uns in das Dorf Domrémy im Jahr 1425, das wird allerdings eigentlich nur durch den Titel und durch die Einblendung der Jahreszahl klar gemacht. Jeannette ist irgendwo zwischen dem Ende des Kinos wie in Jean-Luc Godards Weekend und der reinen Projektionsfläche wie in Lars von Triers Dogville angesiedelt. Die titelgebende Heldin singt sich barfuß durch karge Landschaften, die wenigen Figuren sind in einfachste Kostüme gekleidet und fernab davon dient nur mal noch eine Hütte als weiterer Schauplatz. Das Määäh von Schafen wird zum Running-Gag. Dumont verwehrt sich jedweden Zwängen des historischen Films, erzählt herrlich politisch-unpolitisch und treibt das bis zur grandiosen Lächerlicherkeit eines Monty-Python-Films. Jeannette schleudert ihre Gebete zu Elektro-Pop-Rock und Death Metal gen Himmel, während Nonnen dazu headbangen. Und am Ende, ja da darf sich Jeannettes Onkel sogar noch im Free Style Rap austoben. Es sind wahrlich zwei einmalige Filmstunden, in denen Dumont die Grenzen des Kinos auf absurdeste Weise erforscht und überschreitet. Ein unvergesslicher Kinonachmittag, der nur noch davon gekrönt wurde, dass ich Bruno Dumont persönlich für dieses einzigartige cineastische Erlebnis beglückwünschen und gemeinsam mit ihm ein Selfie machen durfte.
Nun warten schon die nächsten potentiellen Filmperlen, darunter der neuste Streich des Griechen Yorgos Lanthimos (u.a. The Lobster) auf mich. Wir lesen uns!
HIER geht es zu meinem Rückblick von Tag 1 (Wonderstruck, Ismael’s Ghosts, Jupiter’s Moon und Loveless).
HIER geht es zu meinem Rückblick von Tag 2 (Okja, Barbara, Lover for a Day, They und Blade of the Immortal).