Kritik: Ein Glücksfall (FR/GB 2023)

Eine Gastkritik von Michael Gasch

– gesehen im Rahmen der 80. Filmfestspiele von Venedig 2023, Kritik erstmals zu lesen am 4. September 2023 –

Coup de chance 2023 Woody Allen

I wonder what would have happened if he’d spoken to me then.

Seit den 1970er Jahren gilt Woody Allen, mit ein paar wenigen Ausnahmen, als der Ein-Film-Pro-Jahr-Regisseur schlechthin. Die Zeitspanne zwischen seiner letzten Regiearbeit Rifkin’s Festival und seinem neuen Stück Coup de chance (dt. Titel: Ein Glücksfall) welches soeben auf den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig Premiere feierte, springt einem dagegen direkt ins Auge. 1081 Tage liegen zwischen diesen zwei Produktionen und dies sagt schon recht viel über den amerikanischen Regisseur aus, dessen Werk sechs Dekaden umspannt und der es nicht nötig hat, einen Oscar persönlich entgegen zu nehmen. Die zuvor längste Spanne, es handelt sich um 1021 Tage zwischen What’s Up, Tiger Lily? (1966) und Woody, der Unglücksrabe (1969), wird damit abgelöst. Es ist wohl ein Zeichen dafür, dass Allen (87 Jahre jung) nun tatsächlich alt geworden ist. Die große Frage, die im Raum steht, ist offensichtlich: Hat sich das Warten gelohnt? Schließlich könnte man annehmen, dass es sich jetzt nicht länger um den “In der Kürze liegt die Würze”-, sondern um den “Gut Ding will Weile haben”-Allen handelt.

Die Idee ist beileibe keine neue, es gab sie erst vor wenigen Monaten mit Just The Two Of Us (L’Amour er les forêts) in einer abgewandelten Form, ebenfalls mit Melvil Poupaud als schmierigen Ehemann, in Cannes zu sehen. Eine verheiratete Frau trifft nach vielen Jahren einen alten Schulkameraden (Niels Schneider) wieder und Schwups, schon ist die Affäre am Laufen. Als der Ehemann dies herausfindet, folgt kurzerhand darauf das Verschwinden des männlichen Konkurrenten. Das sorgt nicht nur für Fragezeichen bei der Frau (verkörpert von Lou de Laâge), sondern ruft auch ihre Mutter (Valérie Lemercier) auf den Plan, die eigenhändig Ermittlungen aufnimmt. Der Übergang vom Portrait der High-Society zur Suspense-Komödie ist fließend.

Woody Allen fährt dafür sein Standardrepertoire aus, es ist eine typisch amerikanische Inszenierung. Vorbilder des Film noir, wie Eine Frau ohne Gewissen (1944), liegen auf der Hand. Im französischen Kino sähe der Film wohl sehr unterschiedlich aus, nicht nur beim Look. Nicht selten tunkt Allen die Aufnahmen in tiefdunklen Honig, wenn die Affäre aufblüht. Die schmuckhafte Stilistik erzeugt eine romantische Atmosphäre, im starken Kontrast zu den kalten Bildern, die das Heim des subtilen Psychopathen, Pardon Ehemanns, zieren. Das ist zwar irgendwie recht offensichtlich und durchschaubar, tut dem ganzen jedoch keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: Wie DoP Vittorio Storaro sowohl Paris als auch die noble Wohnung einfängt, ist präzise und betörend.

Coupe de Chance Lou de Laâge

Hinzu kommt die Geschichte, die sich alles andere als hyperrealistisch zeigt. Handelte es sich zu 100% um einen typisch französischen Film, würden wahrscheinlich endlose Dialoge verwendet, um die Affäre schönzureden. Allen ignoriert dies jedoch komplett. Eine Wohltat für mich, da ich dem übertriebenen Schwadronieren schon lange überdrüssig geworden bin. Stattdessen wird die Geschichte mit der Komponente der Unwahrscheinlichkeit bzw. des Glücks aufgepeppt. Das ist natürlich sehr subtil verarbeitet und sorgt daher für genug Kopfkino, wie sich die Erzählung weiterentwickeln wird.

Nachdem die kriminalistische Komponente in Form der Ermittlungsarbeit der Mutter aus der Sicht des Ehemanns überhandnimmt, wagt sich Allen mutig an packende Spannungsmomente, wie sie aus den guten alten Zeiten des Film noir bekannt sind. Beziehungsweise betrachtet er auch ältere Filme von sich selbst, wie Match Point oder Verbrechen und andere Kleinigkeiten – aus einer erfrischenden Perspektive. Eine Entscheidung, die storybedingt nur logisch erscheint. Er stolpert dabei zwar hin und wieder, doch alles in allem bietet Coup de chance eine geglückte Symbiose aus schwarzem Humor und Ernsthaftigkeit.

Woody Allens Coup de Chance gleicht wohl am ehesten seinem gelungenen Werk Match Point – allerdings nicht ganz so tragikomisch, sondern leichtherziger, man fühlt sich bis zur letzten Minute gut aufgehoben. Die Umschreibung “Gut Ding will Weile haben” macht daher Sinn, da Allens letzte Produktionen seit Café Society nicht das Gelbe vom Ei waren. Einen höheren Anspruch setzt sich der amerikanische Regisseur aber generell nicht mehr, darauf hat er bereits mehrfach hingewiesen. Wenn ein Werk in zehn Jahren nach wie vor einen echt guten Film abgibt, ist das für ihn ausreichend. Coup de Chance verdient dieses Urteil definitiv mehr als seine Vorgängerfilme.

Ein Glücksfall startet am 11. April 2024 deutschlandweit im Kino.

★★★★★★☆☆


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