Dieses Jahr, 2016, kaum geliebt, eher verhasst, der Sündenbock für zahlreiche Tode und Katastrophen: Niemand glaubt, dass es 2017 wirklich besser wird, aber irgendwie schenkt es auch Genugtuung das geschehene Unglück einfach auf das Jahr an sich zu schieben, in dem es passiert ist. Vielleicht ist Zweitausendsechzehn auch schuld an meiner geringen Filmausbeute? Irgendwie habe ich weniger Filme gesehen als die letzten Jahre. Für eine angemessene Jahresliste reicht es trotzdem. Dennoch gleich vorweg: Auf dieser Liste fehlen viele Filme, die es anderswo auf Bestenlisten schaffen, aber von mir leider nicht rechtzeitig vor Jahresende gesichtet wurden.
Filme wie Der Schamane und die Schlange (Ciro Guerra), Alles was kommt (Mia Hansen-Løve), Nocturnal Animals (Tom Ford), Vor der Morgenröte (Maria Schrader), Son of Saul (Laszlo Nemes), Entertainment (Rick Alverson), Das unbekannte Mädchen (Jean-Pierre & Luc Dardenne), Kubo (Travis Knight), Midnight Special (Jeff Nichols), Tangerine L.A. (Sean Baker), Paterson (Jim Jarmusch), Caracas, eine Liebe (Lorenzo Vigas), Swiss Army Man (Dan Kwan & Daniel Scheinert), Der Wert des Menschen (Stéphane Brizé), Im Schatten der Frauen (Philippe Garrel), High-Rise (Ben Wheatley), The Whispering Star (Shion Sono) und Francofonia (Aleksandr Sokurov)
Dennoch bin ich zufrieden. Ich empfand 2016 als ein durchaus starkes Filmjahr. Zumindest war es ein Jahr der Frauen, genauer gesagt, der Regisseurinnen. Es war das Jahr Maren Ades und von Toni Erdmann. Vier Filme von Regisseurinnen haben es in meine Top 20 geschafft. Das klingt erstmal nicht nach viel, aber drei von ihnen teilen sich dafür sogar das Siegestreppchen. Die Qualität im Kino war dieses Jahr sicherlich weiblicher Natur, zumindest für mein Empfinden.
Genug der Vorrede, ich freue mich auf 2017 und hoffe auf mehr gesehene Filme. Hier kommt meine Top 20:
20. Arrival
von Denis Villeneuve
Villeneuve gehört zu den wenigen Filmemachern, die souverän selbst Filmen mit größeren Budgets ihre eigene Handschrift verleihen. Die enormen Hoffnungen in das kommende Blade Runner-Sequel sind also durchaus berechtigt. Zumal, wenn es dem Film gelingt auch nur ähnlich atmosphärisch, dicht, raffiniert und offensiv humanistisch zu werden wie Arrival, dann freue ich mich jetzt schon.
19. Geschichten aus Teheran
von Rakhshan Bani-Etemad
Der Gewinnerfilm des Drehbuchpreises beim Filmfestival von Venedig 2014 kam nun doch dieses Jahr unverhofft in unsere Kinos. Glücklicherweise, denn der iranische Episodenfilm durchleuchtet die Gesellschaft Teherans auf vielfältige Weise. Beziehungsprobleme, moralisch-religiöse Konflikte und die Repression der Staatsgewalt, sogar in Found-Footage-Ästhetik, sind die roten Fäden der Geschichten. Bani-Etemad heftet sich an ihre Figuren nicht nur aus bloßem politischen Interesse, sondern klar aus filmischen und menschlichen Motiven.
18. In den Tiefen des Infernos
von Werner Herzog & Clive Oppenheimer
Im Herzen des Feuers, am Nullpunkt von Entstehung und Vernichtung, sucht der Mensch seit jeher sein mythologisches Spiegelbild. Doku-Tausendsassa Werner Herzog, der mit Wovon träumt das Internet? sowie Salt and Fire gleich noch zwei weitere Filme dieses Jahr ins Kino brachte, begibt sich zusammen mit dem Vulkanologen Clive Oppenheimer auf die Suche nach diesen Spiegelbildern. Herausgekommen ist wahrscheinlich Herzogs bester Dokumentarfilm seit Grizzly Man.
17. Anomalisa
von Charlie Kaufman & Duke Johnson
Sieben Jahre nach seinem Meisterwerk Synecdoche, New York beschenkte uns Kult-Autor Charlie Kaufman mit einem neuen Film. Anomalisa ist ein in Zusammenarbeit mit Duke Johnson entstandener, überaus erwachsener Stopmotion-Animationsfilm. Vergleichbar mit Lost in Translation, nur ohne dessen Exotismus und die grundständige Hoffnung in die menschliche Existenz, Anomalisa ist ein zuweilen unerträglich misanthropischer Film, den man dennoch nicht verpassen sollte.
16. Train to Busan
von Sang-ho Yeon
Von den zwei südkoreanischen Filmen in meiner Liste, bildet Yeons Zombie-Reißer als stylischer Genrefilm mit Köpfchen die Mainstream-Hälfte. Yeon, eigentlich Anime-Regisseur, setzt mit Train to Busan lose seinen Animationsfilm Seoul Station fort. Dass er noch ungeübt im Spielfilmsegment ist, merkt man Yeon kein bisschen an. Der Film ist so scharf, klar und stringent erzählt als sei er ein Animationsfilm, als wäre jedes Bild genau vorgeplant gewesen. Selbst das langsam angegammelte Zombiegenre erhält somit noch einen frischen Anstrich. Bombe!
15. Scientology – Ein Glaubensgefängnis
von Alex Gibney
Die HBO-Dokumentation (Originaltitel: Going Clear) kam nun doch endlich zu uns, wenn auch nur auf DVD. Es ist dennoch faszinierend und erschreckend zugleich, welche Einblicke man hier in den Kontrollapparat Scientology gewährt bekommt. Gibneys Interviews graben tief. Es ist ein Film der Talking-Heads, aber dafür welchen, denen man an den Lippen klebt.
14. The Forbidden Room
von Guy Maddin & Evan Johnson
Ich bin eigentlich nicht der größte Fan des kanadischen Postmodernisten Guy Maddin, aber sein rauschhafter Episodenfilm The Forbidden Room schenkte mir damals auf der Berlinale sehr viel Freude. Dieses Jahr ist der Film endlich in unseren Kinos gestartet. Maddins und Johnsons Film ändert unaufhörlich die Richtung vom stummfilmartigen B-Picture bis zum Musical mit Gehirn-Fisting. Der verbotene, unterbewusste Raum: Maddin lässt die Tür zu ihm weit offen stehen. Ein Schaumbad im Wahnsinn. Deliziös!
13. The Neon Demon
von Nicolas Winding Refn
Refn gehört auch nicht gerade zu meinen Lieblingen, dennoch konnte ich mich gar nicht satt sehen an seinem Schönheitsbilderbuch The Neon Demon. Das Schöne, belebend sowie abtötend, ist unaufhörlich ambivalent kodiert. Hier gibt es kein Begehren ohne Schuld, keine Liebe ohne Körper. Das kultisch verehrte Schöne, das Ideal jeder Kunst, wird zur großen Leere, zum Zeichen ohne Inhalt. Refn zeigt uns ein schwarzes Loch, in das wir seit jeher freiwillig stürzen.
12. Raum
von Lenny Abrahamson
Frank, Abrahamsons letzter Film war schon auf meiner 2015er-Liste, bei Raum war ich allerdings, auch wegen dem Oscar-Trubel, durchaus skeptisch. Als ich den Film dann allein in einem kleinen römischen Arthouse-Kino sah, verflog diese Skepsis geschwind. Nicht nur ist Brie Larsons bereits gefeierte Darstellung der Grund, sondern weil der Film in seiner Zweiteilung weniger dem Reiz des Genres verfällt und somit mehr der spannungsreicheren Narrative der Flucht überlässt. Nein, Raum ist vollends ein Film der Aufarbeitung und somit ein nötiger Film.
11. The Lobster
von Giorgos Lanthimos
Das Werk eines großen Surrealisten und definitiv ein Triumph für das europäische Autorenkino: The Lobster, irgendwie Dystopie, aber auch Satire, dramatisch, aber auch unfassbar komisch, führt unsere sozialen Konstrukte und gesellschaftlichen Normen genüsslich vor. Ein soziologischer Ritt, der schöner kaum sein könnte, vom Anfang bis zum grandiosen Ende. Liebe ist…
10. Queen of Earth
von Alex Ross Perry
Eine Schlacht der Nahaufnahmen und Gesichter, ein seelischer Kampf, par excellence gespielt, aber behutsam, ja gar brodelnd fotografiert und inszeniert. Queen of Earth schleicht und sticht und blutet leise. Ja, so packend, gruselig, witzig und seltsam kann ein Film über zwei Freundinnen in einem Ferienhaus sein, die sich laufend beschimpfen. Must-See!
9. Love & Friendship
von Whit Stillman
Der Film startet zwar erst heute, zwei Tage vor Ende des Jahres, ein knappes Finish, aber ich kann einfach nicht auf ihn verzichten. Meiner Meinung nach ist Stillman mit seiner Jane-Austen-Adaption die beste Komödie des Jahres gelungen. Bis in die kleinste Nebenrolle (Stephen Fry!) fantastisch besetzt, allen voran das Stillman-Duo Kate Beckinsale und Chloë Sevigny, wobei gerade Beckinsale alle überstrahlt in ihrer Rolle der Lady Susan Vernon. Stillman hat Austen erfolgreich entstaubt und modernisiert. Also ab ins Kino am Donnerstag!
8. 1001 Nacht
von Miguel Gomes
Ich konnte alle drei Teile von Gomes’ sechsstündigem Opus Magnum bereits letztes Jahr auf dem Filmfest München sehen und bin froh, dass er es dieses Jahr in seiner ganzen Form auch zu uns in die Kinos geschafft hat. Meine ausführliche Meinung zur Filmtrilogie gibt es HIER zu lesen.
7. The Assassin
von Hsiao-hsien Hou
Dem taiwanesischen Auteur Hou gelang mit The Assassin die rigorose Entschlackung des Wuxia-Films. Anstatt unaufhörlicher Szenenabfolgen tänzerischer Kämpfe und der Schwerkraft trotzender Akrobatik, melodramatischer Zuspitzungen und geschichtsträchtiger Phantasmagorie, rückt Hou die Stille, die Figuren und ihre Innenansichten ins Bild. Die Kämpfe werden zu kurzen, elliptischen Schlaglichtern. Die Dialoge, getränkt in Schweigen, bleiben nebulös, oftmals lyrisch. Die inszenatorische Finesse des Films erinnert oftmals gar an das Können Stanley Kubricks. The Assassin mag sogar das taiwanesische Barry Lyndon sein.
6. Dope
von Rick Famuyiwa
Der Titel verspricht irgendwas mit Drogen, aber in erster Linie bringt er die Coolness seiner dreiköpfigen Nerd-Clique auf den Punkt, angeführt von Malcolm (Shameik Moore), der mit Retro-Chic, Old-School-Hip-Hop-Liebe, Rockband, Comic-Fetisch und gutem Notendurchschnitt so gar nicht in das vornehmlich Schwarze Inglewood in L.A. zu passen scheint. Dope macht Laune, ist grell, bunt und überraschend. Der Film spielt mit Stereotypen ohne sie zu bestätigen und räumt mit dem Klischee auf, dass Nerdkram den weißen Jungs vorbehalten ist. Pflichtfilm!
5. Right Now, Wrong Then
von Hong Sang-soo
Eine Premiere! Zum ersten mal schaffte es ein Film von Hong in die deutschen Kinos. Das mag freilich am Goldenen Leoparden liegen, den der Film dieses Jahr in Locarno gewann. Darüberhinaus ist Right Now, Wrong Then auch der perfekte Einstieg in Hongs Kino, dass sich mit seiner ruhigen Kameraführung, den wenigen Schnitten, den langen Dialogen und der geringen Nähe zum Genrefilm vom üblichen, international erfolgreichen, südkoreanischen Kino abhebt. In diesem Film trifft ein Arthouse-Regisseur auf eine Malerin. Sie verbringen den Tag miteinander, dann geht es irgendwie schief. Der Film beginnt von neuem. Wieder treffen die beiden aufeinander, doch diesmal läuft alles etwas anders. Right Now, Wrong Then löst sich von der Erzählung, indem er das nebensächliche betont und die Unterschiede innerhalb der doppelt erzählten Geschichte in den Vordergrund stellt.
4. Love in Khon Kaen
von Apichatpong Weerasethakul
Den fürchterlichen deutschen Verleihtitel vergessen wir mal an dieser Stelle. Cemetery of Splendour, wie der Film eigentlich heißt, des thailändischen (Film-)Künstlers Apichatpong Weerasethakul erzählt von einer Liebe zwischen einer vermeintlich wachen Frau und einem Schlafenden, die zu einer Liebe zwischen ganzen Epochen und Wirklichkeiten heranwächst. Zeit und Wahrnehmung werden zu schwammigen Variablen. Ein tief berührender, beeindruckender Film, der eine ungewöhnliche Sogkraft entwickelt.
3. Toni Erdmann
von Maren Ade
Zu diesem Film sind ja nun wirklich genügend Worte gesagt und geschrieben worden. Ich kann nur sagen: Nacktparty!
2. Divines
von Houda Benyamina
Divines, die Heiligen, das sind zwei Mädchen in einem Pariser Vorort. Beste Freundinnen, an der Schwelle zum Erwachsenenalter, unangepasst und tief verbunden, träumen beide vom großen Ruhm und dem vielen Geld. Benyaminas Film lebt und brennt. Divines ist Erzählkino wie es schöner nicht sein könnte, packend und ehrlich. Selbst der Mut zur großen Tragik und zum schillernden Pathos wird nicht gescheut. Absolut mitreißend! Ich war geplättet nach dem Kinobesuch. Leider gibt es den Film hier nur auf Netflix zu sehen.
1. Wild
von Nicolette Krebitz
Ein deutscher Film thront an der Spitze und es ist nicht Toni Erdmann. Kein Film hat mich dieses Jahr mehr überrascht als Wild, Nicolette Krebitz’ zoophile Romanze zwischen einer Frau und einem Wolf. Er ist eine Überraschung, nicht nur weil er mit Genre-Elementen spielt, sondern weil er sich dem “üblichen” deutschen Film verweigert und sich konsequent zwischen die Stühle setzt. Keine strenge Berliner Schule, kein weiß gestrichenes Arthaus, sondern ein vollmundiges Drama der Lust und der Begierde. Auf der anderen Seite gibt es auch keine Ölung für die geplagte Alltagsseele. Wild blickt in unsere modernen Herzen und macht die Sehnsucht nach dem Schoße Mutter Naturs wieder sichtbar. Der zivilisatorische Weltschmerz darf ganz in dieser Fantasie aufgehen. Die Schöne muss hier letztendlich zum Biest werden. Das Biest ist das einzige Ideal, wahrhaft schön, geheimnisvoll und doch so viel lebendiger als wir, nicht wahr?
Meine CinemaForever-Awards 2016
Lobende Erwähnung für Der Junge und das Biest von Mamoru Hosoda
Beste Darstellerin: Kate Beckinsale in Love & Friendship
Bester Darsteller: Peter Simonischek in Toni Erdmann
Newcomer*in des Jahres: Houda Benyamina für Divines
Lieblingsszene: Die (körperliche) Annäherung zwischen David und Lisa im Hotelzimmer (aus Anomalisa)
Beste Bildgestaltung: The Assassin, fotografiert von Ping Bin Lee
Beste Montage: American Honey, geschnitten von Joe Bini
Bester Blockbuster: Elliot, der Drache von David Lowery
Größte Enttäuschung: Einfach das Ende der Welt von Xavier Dolan
Schlechtester Film des Jahres: Bang Gang von Eva Husson
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