Wenn man mal wieder viel zu wenig Filme im Jahr gesehen hat, aber dennoch den Drang verspürt, der Welt seinen erlesenen Geschmack kundzutun, dann kann man auch eine Jahresliste rauskloppen; zugegeben, mit einer langen Liste an Kleingedrucktem. Ja, ich habe Call Me By Your Name immer noch nicht gesehen. Asche auf mein Haupt!
Leider noch nicht gesehen: Viel zu viele Filme, aber die schmerzhaftesten Einträge in meiner “List of Shame” sind wohl The Rider (Zhao), First Reformed (Schrader), Augenblicke: Gesichter einer Reise (Varda, JR), Ready Player One (Spielberg), Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot (Gröning), A Star is Born (Cooper), Lady Bird (Gerwig), Florida Project (Baker), Transit (Petzold) und natürlich immer noch Call Me By Your Name (Guadagnino)
Von den Filmen, die ich gesehen habe, fand ich viele top bzw. interessant, die es aber trotzdem nicht in meine Top-Zehn geschafft haben. Deswegen hagelt es jetzt…
Lobende Erwähnungen: Roma (Cuarón), Mary Poppins’ Rückkehr (Marshall), Mandy (Cosmatos), The House That Jack Built (von Trier), Mission Impossible – Fallout (McQuarrie), Don’t worry, weglaufen geht nicht (van Sant), Hereditary (Aster), Tully (Reitman), Sorry Angel (Honoré), Under The Silver Lake (Mitchell), Aufbruch zum Mond (Chazelle)
Enttäuschungen: Suspiria (Guadagnino), Styx (Fischer), Ocean’s 8 (Ross), Jurassic World 2: Das gefallene Königreich (Bayona)
The Worst: Aquaman (Wan), Utøya – 22. Juli (Poppe), 22. Juli (Greengrass), Tomb Raider (Uthaug), Fahrenheit 451 (Bahrani), Offenes Geheimnis (Farhadi)
Meine Top 10 2018
10 | The Woman Who Left
von Lav Diaz, mit Charo Santos-Concio und John Lloyd Cruz
Mit unter vier Stunden Laufzeit, erzählt der philippinische Slow-Cinema-Auteur Lav Diaz ungewohnt zügig von einer dennoch in unendlichen Totalen ausufernden Rachegeschichte, die lose auf Leo Tolstois Kurzgeschichte Gott sieht die Wahrheit, sagt sie aber nicht sogleich basiert. Ein einziges Ein- und Austreten in Bildkader, Erspähen von Figuren in der Ferne und kleine sowie große Erzählstränge, die sich auftun, die verästeln und verschwinden im Fluss der Filmzeit. The Woman Who Left ist ein beinah stillstehendes Gemälde an der Wand, das beliebig lange (aber nicht zu lange) angeschaut werden kann.
9 | The Untamed
von Amat Escalante, mit Kenny Johnston und Simone Bucio
Schaurig-schöne, zerstörerische Lust gab es dieses Jahr in Amat Escalantes ungezähmter Possession-Replik The Untamed zu sehen. Im ländlichen Mexiko schlägt ein Meteorit ein. Kurz darauf wird eine Holzhütte zum Anlaufpunkt der sexuell Sinnsuchenden. Sie verschwinden und tauchen schwer verletzt wieder auf. Währenddessen feiern die Tiere eine unfassbare Orgie im Meteoritenkrater. Es ist schon allein grandios, dass diese triefend saftige Genre-Ausgeburt in den deutschen Kinos gezeigt wurde.
8 | Nanette
von Hannah Gadsby, Jon Olb & Madeleine Parry
Ich habe lange überlegt, ob ich ein Stand-Up-Special von Netflix in meine Jahresliste packen sollte. Letztendlich hat mich Nanette der australischen Komikerin Hannah Gadsby aber so unverhofft getroffen, wie es ebenso guten Filmen im Kino gelingt. Zumal der “Film” sich seiner Form ganz bewusst ist und durchaus die Außenperspektive sucht. Gadsbys Comedy-Rundumschlag nach #Metoo schreit in die Welt. Gadsbys Gesicht in Nahaufnahme, ihre Stimme ist klar zu hören. Live wäre Gadsby ganz weit weg. Im “Film” Nanette kommt sie uns aber ganz nah.
7 | The Shape of Water
Ein Feelgood-Film, der nichts desinfiziert: Der Schimmel, der Schmodder, der Regen, die Schwärze der Nacht, das Blut, überall Wasser, Lust, Sehnsucht, viel Sehnsucht, auch bei den Bösen. Del Toro kann Hollywood einfach am besten. Dazu noch Michael Shannon in seiner besten Rolle. Es ist ein Melodram, das so optimistisch daher kommt, wie seine Hauptfigur eben auf die Welt blickt, ganz egal wie dunkel sie ist. Wir sehen die Dunkelheit natürlich stets schimmern. *schmacht* Der schönste Monsterliebesfilm seit Die Fliege!
6 | Donbass
Wie der Titel schon vermuten lässt, spielt der Film in der seit 2014 immer umkämpften Region an der ukrainisch-russischen Grenze. Der Film nutzt den realen Konflikt aber nicht als Gegenstand einer politischen Analyse, sondern als Hintergrund mehrerer langer und kurzer Vignetten, die lose über wenige Figuren miteinander verbunden sind. In diesen fast für sich allein stehenden, oft ungeschnittenen und mit vielen Darstellern ausgestatteten Szenen verdichtet Loznitsa den Verlust von Menschlichkeit und Mitgefühl im berauschenden Nebel des Krieges und der (Medien-)Propaganda. Schauspieler*innen spielen traumatisierte Zivilist*innen für Fernsehinterviews. Ein deutscher Journalist sucht bei einer Truppe Soldaten vergeblich nach einem Verantwortlichen. In einer zentralen und überaus unerträglichen Szene wird einer der sogenannten ukrainischen Faschisten an einen Laternenpfahl gebunden und schrittweise von der Zivilbevölkerung misshandelt. Wie zuletzt mit Die Sanfte, ist dem ukrainischen Regisseur ein garstiger Reigen gelungen.
5 | BlacKkKlansman
von Spike Lee, mit John David Washington und Adam Driver
Nach einer unglaublichen, aber wahren Geschichte: 1972, Der schwarze Polizist Ron Stallworth (John David Washington) unterwandert mithilfe eines weißen Kollegen (Adam Driver) den Ku Klux Klan in Colorado und steigt schnell auf. Spike Lee hat hier durchaus einen offen(sichtlich)en Propagandafilm gedreht, der mit großer emotionaler Sogkraft, viel Humor und enormer Spannung in knapp 2,5 Stunden den US-Rassismus auseinander nimmt und unweigerlich beim Orangefarbenen in der Gegenwart enden muss; ein erschütternder, großer Spaß und wahrscheinlich Spike Lees bester Film.
4 | Drei Gesichter
von Jafar Panahi, mit Behnaz Jafari und Jafar Panahi
Drei Gesichter erzählt in erster Linie von zwei Gesichtern, das der Schauspielerin Behnaz Jafari und das von Panahi persönlich. Beide spielen sich quasi selbst. Das dritte Gesicht gilt es erstmal zu suchen. Ist es die junge Frau, mit deren Handyvideo der Film beginnt? Darin begeht sie scheinbar Selbstmord, weil ihre Familie ihren Wunsch Schauspielerin zu werden verhindert. Sie bleibt eine Gefangene ihrer Familie. Im Video macht sie Jafari direkt mitverantwortlich. Angeblich hat sie versucht Kontakt zu ihr aufzunehmen und um Hilfe gebeten, aber nie eine Antwort erhalten. Mit der Unterstützung von Panahi reist die schuldbeladene Jafari in das Dorf des Mädchens, um herauszufinden, ob sie sich wirklich umgebracht hat. Diese raffinierte Prämisse erlaubt es Panahi nicht nur, wieder möglichst viel im Auto zu sitzen, sondern in der Abgeschiedenheit des Dorfes und somit fern der iranischen Autoritäten, auch ein Abbild der ländlichen Bevölkerung zu zeigen. Auch wenn die filmischen Mittel spürbar begrenzt erscheinen, ist es beeindruckend, wie viel Panahi durch sie zu erzählen vermag.
3 | Der seidene Faden
von Paul Thomas Anderson, mit Daniel Day-Lewis und Vicky Krieps
Herrlich garstig und böse, aber so schön friemelig in feinster Höflichkeit und Akkuratesse zugekleistert, dass man beinah das Gift in der Suppe nicht schmeckt. <3 Endlich hat PTA wieder mehr Lust auf Lust(iges). Historisch wird natürlich wieder alles fein filmisch zum Leben erweckt. Die Kleider allein sind einen ganzen Film wert. Lesley Manville ist überragend. Ein großer Spaß ist das – einfach zum Dahinschmachten!
2 | Glücklich wie Lazzaro
von Alice Rohrwacher, mit Adriano Tardiolo und Nicoletta Braschi
Rohrwacher zieht es, wie schon in ihrem letzten Film Land der Wunder, in das ländliche, bäuerliche Italien. In welcher Zeit wir uns befinden ist unklar. Die Bauerngemeinde, bestehend aus Männer, Frauen und Kindern, lebt jedenfalls wie zur Sklavenzeit. Unter der Fuchtel der Marchesa De Luna (Nicoletta Braschi) schuften sie auf der Tabakplantage. Unter ihnen: Der junge, rehäugige Lazzaro (Adriano Tardiolo), eine Heiligenfigur ohne Familie und Geschichte. In der Gemeinde ist er das letzte Glied der Ausbeutungskette. Später im Film wird er ungealtert in der Gegenwart ankommen und versuchen in der Stadt seine “Freund*innen” von damals wiederzufinden, die alle mittlerweile gealtert in der Armut angekommen sind. Dank seiner Tongestaltung und den reizend analogen 16mm-Bildern (inkl. sichtbarer Maskierung des Kamera-Gates), ist Glücklich wie Lazzaro ein Film zum Schwelgen und Versinken geworden. Die märchenhaften Elemente gehen Hand in Hand mit Rohrwachers Anleihen beim italienischen Neo-Realismus und erzählen eindringlich von der Ablösung des Feudalismus durch den Spätkapitalismus.
1 | Shoplifters
von Hirokazu Kore-eda, mit Lily Franky und Sakura Ando
Mein persönlicher Lieblingsfilm von Cannes wurde auch zum großen Sieger gekürt. Die Goldene Palme ging an Hirokazu Kore-edas Familiendrama Shoplifters, in der der eine Gruppe aus Kleinkriminellen ein kleines Mädchen bei sich aufnimmt. Nach und nach entblättern sich die Dynamiken innerhalb dieser Ersatzfamilie. Wie schon in Like Father, Like Son sucht Kore-eda nach dem Bindemittel familiärer Beziehungen, übertrifft seinen Vorgänger aber an Schärfe und Gefühl bei weitem. Ryûto Kondôs Bildgestaltung und die Szenographie des Gaunerhauses, die Organisation von Räumen sowie Licht und Schatten erzählt schonungslos, aber immer emphatisch, vom Versuch eines normalen Lebens am Rande der Gesellschaft. Kurzum: Shoplifters ist ein Meisterwerk!
HIER geht es zu Leonhards, Pascals und Philippes Lieblingsfilmen des Jahres 2018. Weitere Listen folgen bis Ende des Jahres.