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Das Jahr neigt sich dem Ende. Wie es sich für einen guten Filmjournalisten gehört, sehe also auch ich mich genötigt, das Jahr in einer viel zu starren Liste, die sich je nach Wetter, Uhrzeit und Laune sowieso ändert, Revue passieren zu lassen, um in einer zunehmend deprimierenden weltpolitischen Lage hilflos nach einem letzten bisschen Ordnung und Stabilität zu greifen… Wie dem auch sei, Filme!
Was für ein bewegtes Jahr wir doch hatten; das Programm des vermeintlich drittwichtigsten Filmfestivals der Welt, der Berlinale, ist so schlecht, dass ihr 2 Millionen Euro an Fördergeldern gestrichen und die künstlerische Leitung gegangen werden; Disney brennt und entlässt 7000 Angestellte, die SAG-AFTRA erinnert sich daran, warum es sie eigentlich gibt und die Verantwortlichen in Venedig halten es für eine gute Idee, die neuen Filme von Woody Allen und Roman Polański im selben Jahr zu zeigen. Ich freue mich schon auf 2024…
Nichtsdestotrotz hatte 2023 natürlich viele tolle Filme aus der ganzen Welt im Angebot, über die ich in und aus ganz Europa staunen und berichten durfte. Darunter waren große Festivallieblinge, aber auch viele kleine Perlen, von denen ich vorher noch nie gehört hatte. Bevor es mit der eigentlichen Top 10 losgeht, aber noch ein paar kurze Anmerkungen:
Um ein wenig Ordnung zu halten, beziehe ich mich nur auf Filme, die ihre Premiere in diesem Jahr hatten. Das bedeutet, Filme, die ich erst dieses Jahr sehen konnte, aber bereits letztes Jahr zu sehen waren, werden nicht berücksichtigt. Außerdem finden sich in der Liste ausschließlich Spielfilme, da ich es für sehr schwierig halte, Spiel- und Dokumentarfilme miteinander zu vergleichen. Einige Dokumentarfilme, die mich dieses Jahr besonders fasziniert haben, sind Sieben Winter in Teheran, My Worst Enemy und Razing Liberty Square.
Quasi umgekehrt zum ersten Punkt gibt es natürlich auch Filme aus diesem Jahr, die ich noch nicht gesehen habe, bei denen ich mir aber gut vorstellen könnte, dass sie sich im Nachhinein in meine Top 10 mogeln könnten. Besonders im Sinn habe ich: The Zone of Interest, Geliebte Köchin, All of Us Strangers und Der Junge und der Reiher.
Und zu guter Letzt möchte ich natürlich auch den Filmen huldigen, die es knapp nicht auf die Liste geschafft haben bzw. die ich in Teilen gegen kleinere Filme ausgetauscht habe, um das Ganze hier ein bisschen interessanter zu gestalten. Es seien also geehrt:
– Die Unschuld (Monster, Hirokazu Kore-eda / Kinostart 21.03.24)
– Endless Borders (Abbas Amini / Kinostart unbekannt)
– Explanation for Everything (Gábor Reisz/ Kinostart unbekannt)
– Femme (Sam H. Freeman, Ng Choon Ping / Kinostart unbekannt)
– Hit Man (Richard Linklater / von Netflix gekauft, Veröffentlichung noch unbekannt)
– Irdische Verse (Ali Asgari, Alireza Khatami / Kinostart 11.04.24)
– Killers of the Flower Moon (Martin Scorsese / bereits fürs Heimkino erhältlich*)
– Rye Lane (Raine Allen-Miller / exklusiv bei Disney+)
– Rotting in the Sun (Sebastián Silva / exklusiv bei Mubi)
– Shayda (Noora Niasari / Kinostart unbekannt)
– Slow (Marija Kavtaradzė / Kinostart 21.03.24)
– Spider-Man: Across the Spider-Verse (Joaquim Dos Santos, Justin K. Thompson, Kemp Powers / gesehen im Kino / bereits fürs Heimkino erhältlich*)
Und hier nun meine Top 10 Lieblingsfilme des Jahres 2023:
10 | Mars Express
von Jérémie Périn, mit den Stimmen von Léa Drucker und Mathieu Amalric (gesehen im Rahmen des Fantasy Filmfest 2023, Kinostart unbekannt)
Ich liebe 2D-Animation. Und eigentlich habe ich auch eine große Schwäche für Science-Fiction, wäre da nicht das Problem, dass man allzu oft die immergleichen Geschichten in den immergleichen nicht zu Ende gedachten Welten serviert bekommt. Entsprechend freut es mich doppelt, dass Mars Express nicht nur fantastisch gezeichnet und animiert ist, sondern dass er auch die altbekannten KI-Fragen geschickt weiterdreht, sodass man tatsächlich mal das Gefühl hat, sich mit etwas Neuem zu befassen. Es mag Mars Express geholfen haben, dass ich ihn direkt nach The Creator gesehen habe, aber dennoch bleibt er für mich ein wahnsinnig erfrischendes Highlight, dessen Welt mich so fasziniert hat, dass ich mich fast dabei erwische, mir eine Serie in dieser Welt zu wünschen. [Komplette Kritik]
9 | How to Have Sex
von von Molly Manning Walker mit Mia McKenna-Bruce und Lara Peake (im Rahmen des Filmfest Hamburg 2023, Kinostart 07.12.23)
Das junge britische Kino macht seit einigen Jahren sehr viel richtig; Aftersun, Blue Jean, I May Destroy You, etc. Viele queere, identitäre und andere sozial progressive Themen werden mit einer analytischen Selbstverständlichkeit abgehandelt, dass sich der Raum für zwei Dinge öffnet: Einen tatsächlich neuen Anschluss an bestehende Diskurse und ganz viel Stimmung. Und genau das macht auch How to Have Sex so großartig. Es setzt gewisse Dinge im Diskurs um Sexualität in unserer Gesellschaft als selbstverständlich voraus, um an diese anzuknüpfen und nicht das Was, sondern das Wie zu vermitteln. Und dem Wie gebührt hier das große Lob. How to Have Sex ist mehr als sein Inhalt, er ist eine Reise; sinnlich, ästhetisch und systemkritisch. Er ist schemenhaft, irgendwo zwischen Traum und Albtraum, aber auch lebensnah und menschlich. [Trailer]
8 | Tatami
von Guy Nattiv, mit Zar Amir Ebrahimi (gesehen im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Venedig 2023, Kinostart unbekannt)
Ich habe Tatami in der letzten Vorstellung des Tages mit etwa 50 anderen Leuten im halbleeren Sala Pasinetti in Venedig gesehen, während in den größeren Sälen Aggro Dr1ft und The Palace gezeigt wurden. Ihr könnt ja mal Philippe fragen, wie das so lief… Ich glaube, ich habe mich richtig entschieden, denn Tatami hat mich wirklich umgehauen. Eine Geschichte des Widerstands, eine Geschichte des Stolzes, eine Geschichte des Respekts. Großartig gespielt, noch besser gefilmt und geschnitten, ist Tatami wahrscheinlich der spannendste und beklemmendste Film des Jahres. Denn er transportiert mehr als nur Emotionen, er transportiert Gefahr, Frust, Wut und Ungerechtigkeit auf eine derart körperliche, schwindelerregende, betäubende Weise, dass man gar nicht anders kann, als in diesem Film in seiner Thematik aufzugehen.
7 | Paco
von Tim Carlier, mit Manuel Ashman Hebe Sayce (gesehen im Rahmen des International Film Festival Rotterdam 2023, Kinostart unbekannt)
Es gibt wenig Erfreulicheres, als wenn ein Debüt aus dem Nichts einer der besten Filme des Jahres ist. Das gilt umso mehr, wenn man kurz vorher noch überlegt hat, nicht doch lieber was anderes zu machen, weil man am Sonntagmorgen keine Lust hat, durch halb Rotterdam zu fahren. So ist es mir mit Paco ergangen. Ein kleines australisches Schmuckstück, dass sich mit Freelancing beim Film befasst. Übrigens ein Grund, warum es mich wundert, dass der Film nicht auf jedem Indiefestival rauf- und runtergelaufen ist. Der andere ist, oh Wunder, seine überragende Qualität. In Paco folgen wir einem Tontechniker durch Adeleide auf der Suche nach einem verlorenen Ansteckmikro, dessen Signal er immer mal wieder empfängt. Dabei begegnen ihm allerlei abstruse Gestalten und alte Bekannte, die natürlich ganz dringend irgendwas von ihm brauchen. Das ist liebenswert, charmant und vor allem unheimlich lustig. Paco haben definitiv zu wenig Leute gesehen, dabei ist er eine Offenbarung für alle Fans absurder Situationskomik, die sich irgendwo zwischen Monthy Python, Quentin Dupieux und Jacques Tati befindet. [Trailer]
6 | Maryam
von Badrul Hisham Ismail, mit Sofia Jane Azman Hassan (gesehen im Rahmen des International Film Festival Rotterdam 2023, Kinostart unbekannt)
Rotterdam die Zweite. Auch Maryam hat vermutlich kaum jemand gesehen und auch hier ist es eine verdammte Schande. In Maryam folgen wir der titelgebenden Protagonistin, eine unverheiratete 50-jährige Galeriebesitzerin aus guten Verhältnissen, durch die Strapazen, der für sie als Muslima in Malaysia geltenden Sharia-Bürokratie. Das Ganze geschieht gekonnt inszeniert, toll gespielt und mit bissigem Witz geschrieben. Am beeindruckendsten ist aber die Leichtigkeit, mit der das vermeintlich säkulare malaysische Rechtssystem auseinandergeschraubt wird. Maryam präsentiert nämlich ein von Widersprüchen und Doppelmoral zerfressenes System, dessen Fortbestand völlig absurd wirkt. Gleichzeitig verliert der Film nie aus dem Auge, aus welcher finanziell privilegierten Position seine Hauptfigur handelt und versteht das System als Ursache der Probleme und die Gesellschaft nur als deren Symptome. Maryam wird davon profitiert haben, dass ich quasi keine Erwartungshaltung an ihn hatte, aber auch im Nachhinein bleibe ich beeindruckt, wie selbstsicher, souverän und schlichtweg gut dieser Film ist. [Trailer]
5 | Green Border
von Agnieszka Holland, mit Jalal Altawil Maja Ostaszewska (gesehen im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Venedig 2023, Kinostart 01.02.24)
Mit Green Border verhält es sich fast etwas umgekehrt zu Maryam. Nämlich würde ich Green Border an der ein oder anderen Stelle vorwerfen, dass er seine analytische Ebene verlässt, um Emotionen in den Vordergrund zu stellen. Das macht die Erzählung vereinzelt etwas unrund sowie überladen und macht den Film sachlich auch durchaus angreifbar. Und trotzdem halte ich es für die richtige Entscheidung. Mich hat kein Film in diesem Jahr so mitgerissen wie Green Border. Insbesondere die erste Hälfte und das Ende sind absolut fantastisch und müssen sich inszenatorisch vor gar nichts aus diesem Jahr verstecken. Denn bei aller möglichen Kritik gelingt Green Border eine Sache hervorragend: Auf sein Thema aufmerksam zu machen und für sein Thema zu emotionalisieren. Und da ist es dann auch mal egal, dass nicht alles perfekt auserzählt ist, dass man kunsttheoretisch hin und wieder von Kitsch reden könnte, dass der Film keine allzu ausführliche politische Analyse vornimmt. Green Border sollte man nicht gucken, um sich auf einer rein filmischen Ebene an ihm zu erfreuen. Green Border sollte man gucken, wenn man eindrücklich vor Augen geführt bekommen möchte, warum wir alle mehr darauf achten sollten, was die EU an ihren Außengrenzen macht. [Trailer]
4 | Perfect Days
von Wim Wenders, mit Koji Yakusho Tokio Emoto (gesehen im Rahmen des Filmfest Hamburg 2023, Kinostart 21.12.23)
Es fällt mir schwer, zu erzählen, warum genau ich Perfect Days so großartig finde, ohne in mehrere ausführliche Szenenanalysen abzurutschen. Deshalb kurzum, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal einen Film gesehen habe, der so viel mit so wenig erzählt. Perfect Days ist wunderschön, ein Gedicht von einem Film. Ein Film, der ein perfektes Tempo hat. Er schafft es, primär durch Wiederholung die Essenz der Entwicklung, den Komfort der Routine und die Unmöglichkeit des Stillstands abzubilden, inklusive einer Selbstdemontage und Entromantisierung. Perfect Days ist so filmisch, wie Film nur sein kann, und zeigt eindrucksvoll, was in diesem Medium möglich ist. [Trailer]
3 | Past Lives – In einem anderen Leben
von Celine Song, mit Greta Lee Teo Yoo (gesehen im Rahmen der Berlinale 2023, Kinostart 17.08.23, bereits fürs Heimkino erhältlich*)
Eigentlich tue mich schwer mit Romanzen. Durch ihr Auslassen von kritischer Reflexion sind sie in den allermeisten Fällen platt, kitschig und geradezu einladend für Stereotype. Umso mehr beeindruckt es mich dann, wenn es ein Film schafft, genau damit zu spielen und eben dieses Auslassen Teil seiner Erzählung werden zu lassen. Die allerbesten Romanzen beruhen auf der Prämisse, dass der Traum eben nicht Realität werden kann, weil das Leben nun mal nicht so funktioniert; Before Sunrise, In the Mood for Love und jetzt auch Past Lives. Entsprechend ist es auch naheliegend, dass Past Lives sich wahnsinnig ehrlich und menschlich anfühlt. Die Figuren sind nicht dumm, sie wissen, was gerade passiert und dass das nur zu Problemen führt. Doch sie sind auch Menschen, die unsicher über sich und ihren Platz im Universum sind, die sich nach dem Vergangenen und dem nie Passierten sehnen und eben gerade auch den Wert von Romantisierung kennen. [Trailer]
2 | Poor Things
von Yorgos Lanthimos, mit Emma Stone und Mark Ruffalo (gesehen im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Venedig 2023, Kinostart 18.01.24)
Es ärgert mich ja fast schon ein bisschen, wie zu erwarten gut Poor Things ist. Als jemand, der den Roman schon mochte, sich alles aber in etwas kälter, entmenschlichter und abstruser gewünscht hätte, ist mir mit der Verkündung, dass Yorgos Lanthimos an einer Verfilmung arbeitet, natürlich das Herz aufgegangen. Um mich nicht in einem Wahn aus Vorfreude zu verlieren, habe ich weitestgehend versucht, Vorabinfos aus dem Weg zu gehen. Ich wusste daher nicht, dass das Drehbuch nach The Favourite auch wieder von Tony MacNamara und nicht von Efthymis Filippou stammt. Entsprechend überrascht war ich, wie fröhlich und zugänglich der Film doch ist. Ich weiß nicht, ob mir eine Version von Efthymis Filippou besser gefallen hätte, aber feststeht, dass dieser Optimismus und Konstruktivismus dem Film extrem gut stehen. Poor Things strotzt vor Kreativität und Lebensfreude und das überträgt sich auf seinen Emanzipationsdiskurs. Wir brauchen Emanzipation vom Patriarchat, weil es toll ist, emanzipiert zu sein und nicht nur, weil die Alternative kacke ist. Poor Things ist eine einzige Freude und wäre meine klare Nummer eins gewesen, wenn ein gewisser anderer Film meinen Galgenhumor nicht so gut bedient hätte, wie Poor Things meinen sonstigen. [Komplette Kritik]
1 | Do Not Expect Too Much from the End of the World
von Radu Jude, mit Ilinca Manolache Ovidiu Pîrșan (gesehen im Rahmen des Filmfest Hamburg 2023, Kinostart unbekannt)
Tja, was soll ich sagen, wie kann ein Film, der das Zitat „A cunt is like four countries at once, wet, like the UK, split in two, like Korea, bloody, like the Wild West and wants to be fucked, like Romania.” enthält, nicht der beste Film des Jahres sein? Aber im Ernst, Do Not Expect Too Much from the End of the World ist ein einziger Mittelfinger. Gegen das Establishment, gegen die Norm, gegen die politische Rechte, gegen den Kapitalismus, gegen das Ceaușescu-Regime, gegen filmische Standards. Und ich liebe es. Ich habe bei keinem anderen Film dieses Jahr so sehr gelacht und mich zugleich so sehr gefragt, was ich da eigentlich gerade schaue, ob der schieren Absurdität vor mir. Radu Jude ist ein Meister darin, möglichst viel Inhalt an die Leinwand zu schmeißen und daraus irgendwie einen funktionierenden Film zu machen und so lange das auch nur ansatzweise so gut klappt wie in Do Not Expect Too Much from the End of the World ist vom Ende meiner Welt ein Stück mehr zu erwarten. [Trailer]
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