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2023 bescherte uns die SAG-AFTRA eines der brisantesten pandemielosen Hollywood-Jahre der jüngeren Vergangenheit. Doch welche Spuren hat einer der umfangreichsten Streiks der Branchengeschichte hinterlassen? Was hatte 2024 zu bieten? Bestimmt bessere Arbeitsbedingungen, Produktionsstandards und ganz viel neue kreative Energie. Aus so einem Streik entstehen ja auch immer… Oh, Moment… Weniger Produktionen als im Vorjahr? Sogar über ein Drittel im Fünfjahresvergleich? Immer weniger Beschäftigungen für Freelancer bei explodierten Lebenskosten in Südkalifornien? Neue Streiks im Bereich VFX, Animation und Intimitätskoordination? Klingt ja super.
Was macht also eine Branche, in der sich dringend mal grundsätzliche Strukturen ändern müssten? Richtig, gar nichts. Zum Glück sind von den 20 kommerziell erfolgreichsten Filmen dieses Jahr immerhin NULL keine Adaption oder nicht Teil eines Franchise. Da haben wir es den blöden Studios ja richtig gezeigt. Ich freue mich schon auf Jurassic World 4, Saw XI und den Minecraft Film im nächsten Jahr.
Um sich aber nicht den ganzen Tag im eigenen Zynismus zu suhlen, sollte man das Filmjahr natürlich auch positiv beleuchten. Zeit also für eine Rückschau auf die diesjährige Speerspitze des Bewegtbilds, wenngleich 2024 ein eher enttäuschendes Jahr für mich war. Vor der heiligen Top 10 aber noch ein schnelles Vorspiel:
Parallel zum letzten Jahr werden auch diesmal nur Filme Erwähnung finden, die ihre Premiere in diesem Jahr hatten. Das bedeutet, Filme, die ich erst dieses Jahr sehen konnte, aber bereits letztes Jahr zu sehen waren, kommen nicht vor. Außerdem beinhaltet die Liste nur Spielfilme. Zu den dokumentarischen Highlights des Jahres zählen für mich I’m Not Everything I Want to Be, No Other Land und Balomania.
Quasi umgekehrt zum ersten Punkt gibt es natürlich auch Filme aus diesem Jahr, die ich noch nicht gesehen habe, aber mit großer Vorfreude erwarte. Vor allem denke ich da an The Brutalist, Kill the Jockey und I’m Still Here.
Und zu guter Letzt möchte ich mich auch nochmal vor den Filmen verneigen, die es knapp nicht auf die Liste geschafft haben bzw. die ich in Teilen gegen kleinere Filme ausgetauscht habe, um das Ganze hier ein bisschen interessanter zu gestalten. Es seien also geehrt:
– All We Imagine as Light (Payal Kapadia / Kinostart 19.12.24)
– Dune: Part Two (Denis Villeneuve / Fürs Heimkino erhältlich)
– I Saw the TV Glow (Jane Schoenbrun / Fürs Heimkino erhältlich)
– Kneecap (Rich Peppiatt / Kinostart 23.01.2025)
– Last Swim (Sasha Nathwani / Kinostart unbekannt)
– Love Lies Bleeding (Rose Glass / Fürs Heimkino erhältlich)
– Manas (Mariana Brennand Fortes / Kinostart unbekannt)
Hier geht es zu meinen Lieblingsfilmen der letzten Jahre: 2023
Nun aber genug vorweg, los geht’s mit meinen Top 10 Lieblingsfilmen des Jahres 2024:
10 | A History of Love and War
(Una historia de amor y guerra)
von Santiago Mohar Volkow, mit Andrew Leland Rogers und Lucía Gómez-Robledo (gesehen in Rotterdam, Kinostart unbekannt)
Beginnen wir mit dem obligatorischen „Lief in Rotterdam und hat keine Sau gesehen, ist aber voll geil“-Film. Drei Dinge, die eigentlich immer gut bei mir ankommen, sind Kapitalismuskritik, Analogien und absurde Komik. Una historia de amor y guerra bietet von all dem reichlich und steckt uns in eine irrwitzige Erzählung rund um Mexikos Geschichte, Mythologie und den gegenwärtigen Umgang damit. Irgendwo zwischen Dürrenmatt‘scher Groteske, Monty Python und Yorgos Lanthimos sehen wir einen Rundumschlag gegen so ziemlich alles, was sich vom Begriff Systemkritik angesprochen fühlt. Eher weniger auf der subtilen Seite zu Hause, gerade deshalb aber durchaus erfrischend. [Trailer]
9 | Look Back
(ルックバック)
von Kiyotaka Oshiyama (gesehen im Heimkino, exklusiv bei Amazon Prime)
Eigentlich betone ich bei jeder Möglichkeit, die sich mir bietet, wie sehr ich 2D-Animation schätze. Oft nur wenige Atemzüge später sage ich dann aber auch, dass mir die meisten Animes zu stumpf und (wortwörtlich sowie inhaltlich) zu überzeichnet sind. Es freut mich also doppelt, wenn ein Anime seine Spuren hinterlassen kann. Basierend auf dem gleichnamigen Manga von “Chainsaw Man”-Schöpfer Tatsuki Fujimoto versucht Look Back in nicht mal einer Stunde die volle Breitseite Emotionen aufzutischen. Rein inhaltlich funktioniert das nur begrenzt. Die Handlung rund um eine Freundschaft und die Frage, wofür wir überhaupt Dinge kreieren, ist zwar ganz gefällig, haut für sich alleinstehend aber noch nicht aus den Socken. Wie gut also, dass Look Back zusätzlich noch einer der am besten animierten und vor allem inszenierten Animes der letzten Jahre ist. Der Film liefert Einstellungen und virtuelle Kamerafahrten, die nicht nur ästhetisch herausragend sind, sondern das Storytelling ebenfalls nochmal auf eine ganz neue Ebene bringen. Wenn ich sage, Animes sind mir zu überzeichnet, dann schreie ich begeistert auf, für jeden Anime, der auch mal still ist und seine Bilder erzählen lässt, wie es den Figuren gerade geht, wie sie zueinander stehen und was ihnen wichtig ist. [Trailer]
8 | Beating Hearts
(L’Amour ouf)
von Gilles Lellouche, mit Adèle Exarchopoulos und François Civil (gesehen im Kino in Frankreich, Kinostart 27.03.25)
Es gibt Filme, die mag man einfach, ohne wirklich gut begründen zu können, warum. Bei Beating Hearts ist genau das der Fall. Die Geschichte rund um zwei Liebende, die unterschiedlicher nicht sein könnten, hat man gefühlt schon tausend Mal so oder so ähnlich gesehen. Der Film spielt zwar nett mit Realitätsausbrüchen, weltbewegend ist das aber auch nicht. Und dass ich ihn mit meinem sehr mäßigen Französisch komplett verstanden habe, könnte zwar auf eine herausragende Bildsprache hindeuten, ich würde die sehr simple Struktur aber ebenfalls mal als möglichen Grund in den Ring werfen wollen. Doch warum ist Beating Hearts dann überhaupt sehenswert? Nun, die simple Antwort ist, weil er irgendwie funktioniert. Manchmal braucht man eben nicht mehr als eine einigermaßen intelligente Beziehungskonstellation, eine frenetische Inszenierung und Musik von The Cure, um über fast drei Stunden in den Bann gezogen zu werden. [Trailer]
7 | Der Spatz im Kamin
von Ramon Zürcher, mit Maren Eggert und Britta Hammelstein (gesehen im Kino, Kinostart 10.10.24)
Kommen wir von einigermaßen intelligenten Beziehungskonstellationen zu herausragenden Beziehungskonstellationen. Der Spatz im Kamin ist wie auch schon seine spirituellen Vorgänger in der Tier-Trilogie meisterhaft darin, Familiendynamiken abzubilden und die Strukturen dahinter zu sezieren. Was aber noch besser gelingt als zuvor, ist das Darstellen von (unterschwelligen) Konflikten. Die Figuren sprechen zwar, als hätten sie keinen Filter, gleichzeitig verbergen sie aber so viel mehr, das sich über die Jahre angestaut hat, und nur über die fantastisch eingefangene Körpersprache und Mimik zu erkennen ist. Der Spatz hat sich sein symbolkräftiges Nest mitten im Kamin des D-A-CH-Bürgertums gebaut. Und ich setze mich gerne zu ihm und schaue mir die tief versteckten menschlichen Abgründe an. [Trailer]
6 | Ein kleines Stück vom Kuchen
( کیک محبوب من)
von Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam, mit Lily Farhadpour und Esmaeel Mehrabi (gesehen bei der 74. Berlinale, Kinostart 11.07.24, bereits fürs Heimkino erhältlich)
Ich habe eine große Schwäche für das iranische Gegenwartskino bzw. zumindest das, was man als „Widerstandskino“ bezeichnen könnte. Ich finde darin häufig eine Kraft, die sich ehrlicher und gerichteter anfühlt als in vielen anderen Filmen aus privilegierteren Produktionsbedingungen. Besonders klar wird mir das bei Filmen, die so subtil sind wie Ein kleines Stück vom Kuchen. Ein Film, der eigentlich nur die aufkeimende Liebe zweier verwitweter Menschen begleitet. Das ist wahnsinnig süß und zeigt, wie viel Frühling im Herbst stecken kann, um mal eine abgegriffene Metapher zu benutzen. Doch umso mehr schmerzt es dann, zu sehen, wie schwer bis unmöglich so etwas gemacht werden kann. Ein kleines Stück vom Kuchen zeigt eine Gesellschaft, in der man sich nicht nur verboten hat, Spaß zu haben und das Leben zu genießen, sondern überhaupt Bedürfnisse und Forderungen zu stellen. Immerhin war die politische Führung des Iran so gütig, dem Film recht zu geben, indem sie dem Regie-Duo Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam als Reaktion verbat, das Land zu verlassen. [Trailer]
5 | Die Saat des heiligen Feigenbaums
(Les Graines du figuier sauvage)
von Mohammad Rasoulof, mit Misagh Zare und Soheila Golestani (gesehen beim Filmfest Mannheim-Heidelberg, Kinostart 26.12.2024)
Habe ich schon gesagt, dass ich eine Schwäche für iranisches Kino habe? Besonders das kritische, weil es sich so kraftvoll und ehrlich anfühlt… Ja, Die Saat des Heiligen Feigenbaums ist wenig überraschend fantastisch. Deutlich expliziter und brachialer als Ein kleines Stück vom Kuchen, wobei das auch nachvollziehbar ist, wenn man einen Film zwischen zwei Haftstrafen dreht und dann nach der Flucht im Exil fertigstellt. Die Saat des Heiligen Feigenbaums inszeniert ein von vorne bis hinten verrottetes System voller Menschenverachtung und Heuchelei als gnadenlosen Thriller, der sich von Minute um Minute wie ein fester werdender Strick um den Hals anfühlt. Dazwischen sind immer wieder echte Aufnahmen von Protesten im Iran eingestreut. Denn Die Saat des Heiligen Feigenbaums ist nicht einfach nur ein Genrefilm; sein Genre ist die Realität. Das ist furchtbar, setzt den Mut und die Courage, die dieser Film und alle, die an ihm mitgewirkt haben, aufbringen, aber nochmal in Perspektive. [Trailer]
4 | Challengers
von Luca Guadagnino, mit Zendaya, Mike Faist und Josh O’Connor (gesehen im Kino, Kinostart 25.04.24, bereits fürs Heimkino erhältlich)
Ich gebe es zu. Nachdem ich den Trailer im letzten Sommer gesehen hatte und dachte, er würde den ganzen Film vorwegnehmen, war ich nur noch wenig interessiert an Challengers. Als ich dann aber im April im Kino saß, staunte ich nicht schlecht, wie falsch meine Erwartungshaltung doch war. Challengers versprüht so viel Energie wie vielleicht kein anderer Film in diesem Jahr und zelebriert das Hin und Her seiner Figuren mit jeder Sekunde Bild und Ton. Das Ganze wird umrahmt von einer bissigen Erzählung über Verlangen, dessen Strukturen, Kontrolle und die absurden Dinge, die wir Menschen bereit sind, dafür zu tun. Challengers ist wie ein Spiel, das nicht nur erst nach und nach die Regeln erklärt, sondern ebenfalls erst im Laufe der Zeit enthüllt, wer überhaupt spielt. [Trailer]
3 | Else
von Thibault Emin, mit Matthieu Sampeur und Edith Proust (gesehen im Rahmen des 38. Fantasy Filmfests, Kinostart unbekannt)
Wenn man mich nach nur einem Grund fragt, warum ich das Kino so liebe, dann antworte ich immer gleich: Das Kino kann Dinge ausdrücken, die nicht in Worte zu packen sind und Logik und Stringenz überhöhen. Das Kino, so sehr es aus Inszenierung, Performanz und Montage bestehen mag, ist pur. Pure Situationen, pure Beziehungen und vor allem pure Emotionen. Und daran hat mich ein Film in diesem Jahr besser erinnert als alle anderen; Else von Thibault Emin. Ein Film, der sich irgendwo unter dem klangvollen Begriff metaphysische Post-Pandemie-Body Horror-Beziehungsdramödie verorten lässt. Allen, die sich jetzt wundern, was das bitte bedeuten soll, möchte ich eine Frage stellen: Hat sich euer von Pandemie und Lockdown gebrandmarktes Gehirn schonmal überlegt, wie es wohl wäre, eine Apokalypse in euren vier Wänden zu verbringen, nur mit euren Liebsten und Nachbar*innen um euch? Was das mit euren Beziehungen, eurem Verstand, eurem Körper und eurer Wahrnehmung von Realität machen würde? Ich glaube, ich habe da einen Film für euch. [Trailer]
2 | April
(აპრილი)
von Dea Kulumbegashvili, mit Ia Sukhitashvili und Kakha Kintsurashvili (gesehen beim Filmfest Mannheim-Heidelberg, Kinostart unbekannt)
Eine der ersten Szenen in April ist eine Geburt. Eine echte. Minutenlang aus einer Einstellung gefilmt. Danach geht es in ein Büro, kalt und steril. Das Kind ist tot. Der Vater gibt der Hebamme die Schuld; der Krankenhausdirektor auch. Was folgt, ist eine gnadenlose Anklage an alles, das sich Gesundheitssystem und Patriarchat nennt. April erzählt eindringlich von der Unmöglichkeit weiblicher Sexualität im Hier und Jetzt. Was macht man, wenn selbstbestimmt verhüten, abtreiben und Kinder kriegen allesamt keine Optionen sind? Richtig, weibliche Solidarität außerhalb des Legalen. Wo das hinführt, sehen wir anhand der Hauptfigur Nina. Vom Selbsthass zerfressen, offenbar ihre ganze Persönlichkeit aufgegeben, um nur noch zu funktionieren. Ziellos, aussichtslos und hoffnungslos, gefangen in einem System, in dem Frauen keinen Wert und noch weniger Rechte haben. April ist kein Film, der zu einem konstruktiven Diskurs einlädt, was man denn vielleicht, eventuell, möglicherweise mal für Anpassungen am Gesundheitssystem und in der Gynäkologie vornehmen könnte. April hat ein simples Ziel. Er will zeigen, dass es so nicht weitergehen kann. Und nicht etwa auf eine Art und Weise, dass der Film endet und fünf Minuten später wieder alles egal ist, weil es ja nur ein Film war. Nein, April will in Erinnerung bleiben, will uns quälen, will uns aus unserer Komfortzone zerren und verhindern, dass wir so schnell dahin zurückkehren. Er will zeigen, dass es so nicht weitergehen kann. Und das gelingt ihm. [Clip]
1 | La Cocina
von Alonso Ruizpalacios, mit Raúl Briones und Rooney Mara (gesehen im Rahmen der 74. Berlinale, Kinostart 16.01.2025)
Filme, die in der Küche spielen, gibt es viele. Fast alle von ihnen behandeln Leidenschaft, Erfolgsdruck, Obsession und Identität. Naheliegend, denn kaum ein Thema ist so persönlich und kulturell bedeutsam wie Essen. Essen ist wie eine Verlängerung von uns, zeigt unsere Prägungen, unsere Fähigkeiten, unsere Träume. Entsprechend häufig sieht man Filme mit kulinarischem Schwerpunkt, mal mehr, mal weniger eingestaubt. Doch zumindest Regisseur Alonso Ruizpalacios scheint geputzt zu haben, denn La Cocina nimmt sich etablierte Formeln und stellt sie komplett auf den Kopf, um nicht nur den Küchenfilm, sondern auch den „American Dream“ in aller Strenge zu dekonstruieren. Wie wäre es mit einem Küchenfilm, in dem es überhaupt nicht um Essen geht, in dem Persönlichkeit stets vom Essen getrennt ist, in dem Träume nur außerhalb der Küche stattfinden? Der Alltag in der Küche ist von vorne bis hinten durchgetaktet, das Essen ist ein Produkt, genauso wie die, die es zubereiten, sich dabei kaputt schuften und daran zerbrechen. Es gibt keine Träume und schon gar keinen Amerikanischen. La Cocina führt uns, übrigens virtuos inszeniert, die Auswüchse eines Systems vor Augen, in dem man nicht vom Tellerwäscher zum Millionär wird. Viel wahrscheinlicher kauft das Restaurant gerade eine neue Spülmaschine, um Stellen zu kürzen, und wenn du Glück hast, ist es nicht deine. [Trailer]
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