Eine Gastkritik von Sascha Böß
Das Leben ist eingerostet. Es gibt nichts mehr zu erleben, nichts mehr zu hoffen. Man hat sich mit der Lage abgefunden. Der Alltag ist durchgeplant, es gibt keinen Raum mehr für Träume. Als der Geschichtslehrer Martin (Mads Mikkelson) seine Frau fragt, ob er langweilig geworden sei, antwortet sie lapidar: Früher sei er anders gewesen. In der Schule ist er abwesend, unkonzentriert, leidenschaftslos. Seine Schüler, die kurz vom dem Abschluss stehen, beschweren sich bei der Schulleitung über ihn. Martin und ein paar seiner befreundeten Lehrerkollegen sind gefangen in ihrem lethargischen, kleinbürgerlichen Leben. Neudeutsch würde man sagen: Sie befinden sich in der Midlife-Crisis. Die Freunde machen Martin eines Abends auf den norwegischen Philosophen und Psychiater Finn Skårderud aufmerksam, der die These vertritt, dass der Mensch mit 0,05 Promille Alkohol zu wenig im Blut auf die Welt gekommen ist. Würde man diesen Pegel ständig halten, wäre man ein ausgeglichenerer, kreativerer, offener, mutigerer und selbstbewussterer Mensch werden. Eine tiefe, anhaltende Freude wäre möglich.
Angesichts dieser verlockenden Versprechungen fassen Martin und seine Freunde den Plan, eine wissenschaftliche Studie zu dieser These zu verfassen – mit ihnen selbst als Testpersonen. Das Ergebnis zeigt sich sofort: Martin wird ein besserer Vater und Liebhaber. Seine Frau ist verwundert von seiner jugendlichen Kraft und auch in der Schule läuft es endlich wieder rund. Voller Tatendrang hält er großartige Geschichtsstunden, in denen er die ganze Klasse zum Mitmachen motivieren kann. Seine Schüler sind völlig begeistert von seiner plötzlichen Wandlung. Das Leben scheint überraschend leichter und lebenswerter geworden zu sein. Als Martins Freunde ebenfalls von äußerst positiven Wirkungen erzählen, entschließen sie sich dazu, die Dosis zu erhöhen. Ein großer Fehler, denn ab hier häufen sich die negativen Begleiterscheinengen, die zu Infantilisierung sowie desaströsen Wirkungen und schlussendlich zu einem tragischen Ereignis führen. Die erhoffte Freiheit ist zum Zwang verkommen.
Wichtig ist jedoch anzumerken, dass diese negativen Aspekte erst auftauchen, als sie über die 0,05 Promille hinausgehen. Die These des Philosophen bleibt daher – unter Beachtung der geringen Anzahl von Probanden und in einem im Film unbestimmten Zeitraum – eher bestätigt als widerlegt. Thomas Vinterberg (Das Fest, 1998 & Die Jagd, 2012) hat mit diesem Film, der im übrigen den Oscar 2020 für den international besten Film gewonnen hat, erneut gezeigt, dass er ein Meister seines Handwerks ist. Denn die letzte Szene ist ein Meisterwerk, eine der besten Schlussszenen der letzten Jahre: Mads Mikkelson tanzt im Vollrausch zu den vollen Klängen des Liedes „What A Life“ der Band Scarlet Pleasure. Die Szene besticht durch ihre grandiose Kameraführung, durch die rhythmische Leichtigkeit, wahre Glückseligkeit pure Ekstase. Alle bedrückenden Fesseln wurden endlich abgeworfen. Wer hier nicht zumindest mitwippt, dem ist nicht mehr zu helfen. In dieser letzten Szene wird die Quintessenz des ganzen Films sichtbar: Es ist ein Plädoyer für das gute Leben. Und er präsentiert eine berauschende Doppeldeutigkeit: “Was will der Film nun eigentlich?” stellt man sich als Frage. Verharmlost er etwa den Alkoholismus, wie einige Filmkritiker befürchten? Die Stärke des Films liegt in seiner Ambiguität, die weder die Gefahren des Alkoholismus verharmlost noch mit dem belehrenden Zeigefinger die Behauptung aufstellt, Alkohol sei böse. Der Film steht abseits jeglicher plumper Moralisierung. Ihm liegt viel eher eine anarchistische Kraft zugrunde, die das Leben als solches feiert.
Dies ist im Übrigen ein spezifisch skandinavisches Können, das sowohl das Leichte als auch das Schwere miteinander zu verbinden weiß. Vinterberg ist ein Meister darin. Darum kann man das Schlimmste erwarten, als Mitte des Jahres bekannt wurde, dass Leonardo DiCaprio an einem US-Remake des Filmes arbeite. Auch nach dem internationalen Erfolg des südkoreanischen Meisterwerks Parasite* und Bong Joon-hos Plädoyer gegen die Angst vor Untertiteln bei den Oscars 2019 sind die US-amerikanischen Produzenten immer noch nicht bereit, große ausländische Filme zu zeigen. Die US-amerikanische Kopie wird vermutlich schlecht sein, weil sie vom Moralismus getränkt sein wird. Die Alkoholtrinker werden zu Sündern und ohne deren tiefe Reue wird es keine Hoffnung auf ein Happy End geben können.¹
Ursprünglich wollte Vinterberg sogar die negativen Seiten des Alkohols ganz ausblenden. Wenn man sich versucht vorzustellen, was dies für ein Partyfilm geworden wäre… Die berauschende Ekstase der letzten Szene wäre wohl kaum zwei Stunden lange aufrecht zu erhalten gewesen sein. Gerade die Anspannung und Differenz zwischen den Szenen gibt diesem Film das nötige Aroma. Traurigerweise ist der Grund für Vinterbergs Änderung ein höchst tragischer: Am vierten Drehtag stirbt seine Tochter bei einem Autounfall. Der verschuldetet Fahrer hatte am Smartphone gespielt – das modernste Suchtmittel. So entwickelte sich der Film von einem undifferenzierten Lob des Alkohols zu einem Lob des Lebens.
Aber warum trinkt man eigentlich in diesem Film? Trinken ist ein Versuch, eine Unbeschwertheit genießen zu können, eine Form von Vitalität zu verspüren, die Gelassenheit zu besitzen, auch mal Scheitern zu dürfen. Kurzum: Man trinkt, um für kurze Zeit dem engen gesellschaftlichen, kleinbürgerlichen Korsett zu entfliehen. Bei all der grauen und brutalen Realität, bei all den vorgesetzten Tatsachen, hat der Angetrunkene den Mut wieder von einem besseren Leben zu träumen, auf eine alternative Gesellschaft zu hoffen. Mark Fisher schrieb in seinem Buch „Capitalist Realism: Is There No Alternative?“ (2009), dass wir uns heute das Ende der Welt eher vorstellen könnten, als das Ende des Kapitalismus. Alternativen für unsere heutige Gesellschaft sind lebenswichtig. Warum sollte man also in Anbetracht der bereits eingetretenen Klimakatastrophe und den immer schärfer werdenden drohenden sozialen Verwerfungen nicht zu einem Hilfsmittel wie Alkohol greifen, um leichter träumen zu dürfen? Das abendliche Glas Wein als Ergänzung zur oft trockenen politischen Theorie, um unseren Horizont zu erweitern, neue Denkräume zu erschließen und einen Ausweg aus der todbringenden Apokalypse zu finden – warum denn nicht? Man sollte aber keineswegs soweit gehen und im Alkohol ein Heilmittel sehen. Alkoholkonsum an sich ist kein revolutionärer Akt, bleibt es doch, auch wenn man mit Freunden trinkt, ein höchst individueller Vorgang, der ökonomische und ökologische Verhältnisse unangetastet lässt und – wie der Film auch zeigt – bei zu großem, unkontrolliertem Konsum auch ins Anti-Soziale abdriften kann.
Fazit: Thomas Vinterberg hat mit Der Rausch (internationaler Titel Another Round) einen berauschenden, erfrischenden, anarchistischen Film geschaffen, der völlig abseits des plumpen Moralismus steht. Es ist kein Problemfilm – zumindest ist nicht der Alkohol hier das eigentliche Problem, sondern vielmehr unsere mutlose, lethargische, kleinbürgerliche Gesellschaft, die nicht mehr im Stande ist, die notwendigen Alternativen in Betracht zu ziehen und danach zu handeln. Vinterberg zeigt dagegen mit berauschender Leichtigkeit auf, dass ein gutes, ein besseres Leben möglich ist. Der Film fließt den Hals eines Cineasten hinunter wie ein reifer, aber doch verspielter, wohl dosierter Wein. Ich nehme gerne noch ein Glas, Herr Ober.
Hier geht es zum Trailer auf Youtube.
Der Rausch startet am 22. Juli 2021 deutschlandweit im Kino. Am 26. November 2021 erscheint der Film zudem bereits auf DVD bzw. Blu-ray.*
¹: „Hollywood Shouldn’t Remake the Brilliant Another Round“, Eileen Jones: jacobinmag.com/2021/05/anothe
Literaturtipps: „Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt.“ (2018); Thomas Bauer. “Capitalist Realism: Is There No Alternative?“ (2009), Mark Fisher
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