Kritik: Utøya 22. Juli (NO 2018)

Ihr werdet das niemals verstehen.

Bevor wir auf der titelgebenden, 40 Kilometer nordwestlich von Oslo gelegenen Insel im Tyrifjord eintreffen, auf der sich für 72 Minuten die Hölle auf Erden offenbaren wird, empfängt uns Utoya 22. Juli mit einer Mischung aus Film- und Archivaufnahmen des an jenem Tag stattgefundenen Bombenanschlags im Osloer Regierungsviertel. Es ist der ohrenbetäubende Auftakt eines Norwegen bis heute erschütternden Massentötens, ausgehend vom damals 32-jährigen Anders Breivik, der sich mit den Mitteln islamistischer Terrororganisationen gegen die nationale Immigrationspolitik in Position bringen wollte. An diesem Tag, dem 22. Juli des Jahres 2011, wird Breivik 77 Menschen das Leben nehmen, der Großteil von ihnen nicht einmal 18 Jahre alt. Utoya 22. Juli aber sollte sich nicht mit dem Täter beschäftigten, Breivik ist nur ein dunkler Schemen, der unkenntlich in der Tiefe des Raumes verkehrt.

Stattdessen ist Utoya 22. Juli den Opfern und Überlebenden gewidmet, auf deren detaillierten Erlebnisberichten sich Erik Poppe bei der Realisierung dieses Werkes bezog. Anstatt im Treibsand einer intellektuellen Nachvollziehbarkeit der Grausamkeiten zu versacken, geht es dem Film allein um ein körperliches Erfahrbar machen – und genau dafür musste Poppe bereits reichlich Schelte beziehen. Intelligenzblätter auf der ganzen Welt mokierten sich nahezu einvernehmlich darüber, dass Utoya 22. Juli den Amoklauf zur Geisterbahnattraktion verklären würde und einzig und allein auf Nervenkitzel, Thrill und Exploitation spekuliere. Dass sich Erik Poppe mit diesem Film tatsächlich auf einen ungemein schmalen Grat begibt, liegt in der Natur der Sache begründet. Von geschmackloser Ausbeutung einer authentischen Tragödie, wie viele Kritiken verlauten ließen, ist in Utoya 22. Juli allerdings nicht viel zu finden.

Es vergehen kaum mehr als fünfzehn Minuten, bis die ersten Schüsse durch das beschauliche Wäldchen der Insel hallen. Was zu Anfang wie Feuerwerkskörper anmutet, entpuppt sich alsbald als das gezielte Feuer eines Unbekannten, der das Ferienlager der Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei von Jetzt auf Gleich in einen Ort des Schreckens verwandeln wird. Jugendliche schreien, wimmern, flehen, krepieren, scheinen in ihrer Todesangst wie gelähmt. Dass diese 72 Minuten, in denen sich Utoya 22. Juli an die Versen der 18-jährigen Kaja (aufopferungsvoll: Andrea Berntzen) heftet und den Anschlag in Echtzeit nachfühlt, in einer Plansequenz festgehalten werden, irritiert im ersten Moment natürlich ein Stück weit, ist dieses stilistisches Mittel doch auch immer mit dem Manierismus des Regisseurs verbunden, der seine technische Finesse über diese fortlaufende Einstellung zum Ausdruck bringen möchte.

In Utoya 22. Juli aber existiert diese Attitüde einer handwerklichen Machtdemonstration jedoch nicht, weil sich Poppe ganz und gar auf den erschütternden Wahrnehmungshorizont der um ihr Leben fürchtenden Jugendlichen einlässt. Die Plansequenz ist hier ein sicherlich dynamisierendes, ungemein immersives Element der filmischen Wirkung, aber sie verdeckt niemals die grundlegende Motivation, den Menschen zu gedenken, die an diesem Tag sterben respektive hautnah miterleben mussten. Dafür, so wirkt es, ist Poppe selbst viel zu verstört von der allseits umgreifenden Panik, der Hilflosigkeit, der zermürbenden Klangkulisse, die sich irgendwann nur noch aus Schreien und Schüssen ergibt. Wäre dieser Begriff nicht so ungemein reißerisch konnotiert, man könnte Utoya 22. Juli als atemloses Terrorkino bezeichnen, in dem der Zuschauer rückhaltlos auf die allgegenwärtige Verzweiflung und Beklemmung zurückgeworfen wird – vor allem aufgrund seines Vorwissens.

Die Frage, die sich nach Utoya 22. Juli unweigerlich ergibt, ist: Darf man ein Attentat, dessen Ursprung in der Realität fußt, in einer derart radikalen Form darstellen? Werden ethische Grenzen überschritten, wenn sich der Zuschauer zusammen mit den Schauspielern und der so behänden wie desorientierten Kameraführung in den matschigen Waldboden wirft, um nicht entdeckt zu werden? Zweifelsohne liefert Utoya 22. Juli genügend Diskussionsstoff, nicht zuletzt aus dem Grund, weil er sich über seine gut 90-minütige Laufzeit so extrem einnehmend gestaltet, den Horror von Utoya quasi greif- aber nicht begreifbar macht. Von einer stofflichen Ausschlachtung aber kann nicht die Rede sein, dafür zeigt sich Erik Poppe zu bestürzt, zu fassungslos und letztlich auch zu angewidert von Breiviks Amoklauf, als dass er ihn für niedere Unterhaltungszwecke instrumentalisieren könnte.

Utoya, 22. Juli startet am 20. September 2018 in den deutschen Kinos.

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