Eine Gastkritik von Marc Trappendreher
“Lache und die ganze Welt wird mit dir lachen. Weine, und du weinst allein.”
Eine Odyssee durch die Dunkelheit der menschlichen Seele
Die Ausgangssituation von Oldboy ist äußerst beklemmend: Da sitzt ein Mann eingesperrt in einem heruntergekommenen, tristen Apartment, in dem ihm nur der Fernseher das Medium zur Außenwelt ist. Von da aus unternimmt Park Chan-wooks Film von 2003 eine lange Reise, die die Umstände dieser Gefangenschaft aufschlüsseln soll. Der Film, der nur oberflächlich die Codes des Gangsterfilms bedient, entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem regelrechten Kultfilm, der eine große Anhängerschaft fand, durch Hollywood neu verfilmt wurde und bis heute von Filmfans nahezu kultisch verehrt wird. Dafür gibt es mehrere Gründe, vornehmlich ist es wohl die tiefgründige Meditation über Rache, Identität, Erinnerung und die unentrinnbaren Schatten der Vergangenheit, die diesem Film seine tiefgründigere Eigenheit inmitten der Genrestandards des Gangsterfilms verleiht.
Oldboy basiert auf dem gleichnamigen Manga von Garon Tsuchiya und Nobuaki Minegishi und erzählt die Geschichte von Oh Dae-su (Choi Min-sik), einem gewöhnlichen Geschäftsmann, der ohne ersichtlichen Grund entführt und fünfzehn Jahre lang in einem privaten Gefängnis festgehalten wird. Nach seiner Freilassung begibt er sich auf eine Reise, um die Identität und die Motive seines Entführers herauszufinden. Diese Suche führt ihn tief in ein Labyrinth aus Lügen, Intrigen und schmerzhaften Enthüllungen; ein finaler „twist“ ist heute weitgehend bekannt, Park Chan-wook nutzt ihn präzise, um die Fatalität seiner Filmerzählung am Ende zu runden – die Rache und Verzweiflung, die hier so untrennbar miteinander verbunden sind, kulminieren in diesem Moment.
Nicht nur ein simpler Rache-Trip
Der südkoreanische Regisseur Park Chan-wook (Die Frau im Nebel), ein studierter Philosoph, nutzt dabei sehr direkt Versatzstücke aus der griechischen Mythologie, die Ödipus-Tragödie ist ihm dabei die wichtigste Bezugsquelle, über die er diese Gewaltballade auslegt. Die rohen und oft schockierenden Gewaltakte sind in alledem nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, um die Brutalität und die Konsequenzen von Rache und Gewalt zu verdeutlichen – Park Chan-wook achtet darauf, nicht der Effekthascherei anheimzufallen, er stilisiert die Gewalt mittels Plansequenzen und präziser Choreographie – da gibt es etwa die berüchtigte Korridorszene, in der Oh Dae-su sich mit einem Hammer den Weg durch eine Horde von Schlägern bahnt – zu einem ballettartigen Kunsterlebnis.
Aus heutiger Sicht betrachtet, fällt dabei umso mehr auf, wie stark die John Wick-Reihe diesem Film unter diesem Aspekt nahesteht. Nicht nur die Rache und ihre verheerenden Konsequenzen werden in Oldboy zunehmend als rein zerstörerisch und letztlich sinnfrei aufgedeckt, auch die moralischen Fixpunkte werden mithin ebenso aufgehoben: Oh Dae-su ist nicht nur ein Opfer, sondern auch ein Täter, dessen Handlungen und Entscheidungen ebenso zur Katastrophe führen, wie er letztlich zu ihr geführt wird. Der Antagonist, Lee Woo-jin (Yoo Ji-tae), ist seinerseits getrieben von einem unstillbaren Durst nach Vergeltung für ein vergangenes Unrecht. Es sind zutiefst fehlerhafte und komplexbeladene Menschen, deren Motive und Handlungen zu ihrem eigenen Untergang führen – jeder bereitet hier jedem letztlich ein unschönes Ende, eine schmerzhafte Wahrheit über die menschliche Natur offenbarend.
Eine zutiefst erschütternde, menschliche Ballade
Es ist eine starre und seltsam leblose Wirklichkeit, in der Oh Dae-su sich bewegt, die Kamera von Chung Chung-hoon zieht diese Wahrnehmungswelt nach: Lange, statische Aufnahmen wechseln mit frontalen, direktadressierenden Großaufnahmen ab. Der klassische filmmusikalische Teppich aus Vivaldi und Khachaturian bildet dabei den auditiven Sogeffekt, der auch Schwebezustand ist. Oh Dae Su glaubt sich dem Wahnsinn verfallen, er versucht verzweifelt gegen den Realitätsverlust anzukämpfen, der um ihn greift. Dafür nutzt Park Chan-wook eine nicht-lineare Erzählstruktur, die diesen Abstieg in die mentale Hölle für den Zuschauer unmittelbar vergegenwärtigen soll: Komplex und verschachtelt arbeitet er mit vielen Rückblenden und surrealen Elementen, die die Zuschauer ständig herausfordern und ihre Wahrnehmung der Realität in Frage stellen – das Voice Over des Protagonisten, das als trügerische Stütze über den Bildern liegt, schafft dabei weniger Transparenz als vielmehr Ambivalenz.
Nach Sympathy for Mr. Vengeance (2002) und vor Lady Vengeance (2005) ist Oldboy der zweite Teil einer Rache-Trilogie, der in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Bei Capelight Pictures liegt eine 4K-Neuveröffentlichung von Oldboy vor – dank dieser aufwändigen Restaurierung erreicht der Film nun eine visuelle Brillanz, die das intendierte plakative Design umso mehr hervorhebt. Die Farbpalette, dominiert von kalten Blautönen und tiefen Schatten, reflektiert die emotionale Kälte und Isolation des ambivalenten, irrenden Helden. Park Chan-wook nutzte diese formsprachlichen Techniken, um die psychologische Tortur und den mentalen Verfall von Oh Dae-su zu verdeutlichen. Die Restaurierung dieses Klassikers des modernen südkoreanischen Kinos führt die Zuschauer dabei umso intensiver in die Abgründe dieser menschlichen Seelen.
Ein vortrefflicher filmkritischer Essay von Lucas Barwenczik zeichnet konzise die verschachtelten Bedeutungsebenen und die zeitlose Wirkungsmacht dieses Films heraus. Ein Interview mit Nicolas Winding Refn (Drive), Audiokommentare der Filmschaffenden sowie die ausführliche koreanische Dokumentation Old Days, die den Film rückblickend betrachtet, runden das Angebot dieser Heimkinoveröffentlichung neben dem traditionellen Bonusmaterial aus Interviews, entfallenen Szenen und Trailern ab. Die 4-Disc Limited Collector’s Edition im Mediabook ist ab dem 18. Juli 2024 erhältlich.
Kinostart: 2. September 2004
Regie: Park Chan-wook
=> weitere Filme des Regisseurs
Darsteller: u.a. mit Choi Min-sik, Yoo Ji-tae und Kang Hye-jeong
Filmmusik: Cho Young-wuk
FSK-Freigabe: ab 16
Verleih 4K Blu-ray: Capelight Pictures
Laufzeit: 1 St. 59 Min.
★★★★★★★★