Pfeffis und Vodka werden auf einem Tablett durch die vollen Reihen gereicht. Jeder kann sich einen nehmen. Die Bierflaschen klirren. Auf der Leinwand läuft der Trailer zu Bloody Pom Poms (1988) und zeigt schöne Cheerleaderinnen in Todesangst. Der Filmrauschpalast in Moabit, ein unabhängiges Kino in Berlin, das weder zur Yorck-Gruppe, noch irgendeiner Multiplexkette gehört, lädt zur Open-Air-Saison. Hinter der Kulturfabrik in der Lehrter Straße präsentiert sich eine riesige Leinwand, davor zig Gartenstühle und Bierbänke, dahinter eine Eisenbahnbrücke, auf der just ein Zug Richtung Hauptbahnhof düst. Das Panorama könnte nicht besser passen, denn die Kinder vom Bahnhofskino haben das Führerhaus übernommen. Passend zum Sommer-Open-Air stehen drei Filme des Summercamp-Slashers auf dem Programm. Die Prämisse des Genres ist klar: Nordamerikanische Jugendliche in einem Ferienlager nehmen es mit der Enthaltsamkeit nicht ganz so genau und werden daher nacheinander von einem häufig maskierten Unbekannten brutal gemeuchelt. Am Ende kann nur die „Jungfrau“, das Final-Girl, den Killer zur Strecke bringen.
Es ist die mittlerweile 7. Ausgabe der monatlichen Bahnhofskino-Reihe, der spätesten Vorstellung Berlins, die von 22 Uhr abends bis 4 Uhr morgens mit vergangenen Filmen des abseitigen Kinos lockt. Den Anfang macht diesen Abend allerdings ein aktueller Film: The Final Girls (2015), stark besetzt mit Thomas Middleditch und Taissa Farmiga. Der Film passt, weil er das Genre dekonstruiert und somit dessen Konventionen gut erklärt. Zwar ist er, am Bahnhofskinomaßstab gemessen, eindeutig zu handzahm und unblutig, aber um Open-Air- und Exploitationpublikum gemeinsam vor eine Leinwand zu bekommen, gibt es wohl keinen besseren Kompromiss.
Die drei noch jungen Kuratoren der Reihe Mathis Raabe, Ipke F. Cornils sowie CF-Autor Leonhard Balk, wirken dennoch unglücklich. Warum? An den voll besetzten Reihen kann es nicht liegen. „Wir haben vergessen, vorher die Regeln zu erklären.“, sagt Mathis. Die Regeln, das heißt eigentlich, dass es keine Regeln gibt. Während dem Film soll man nämlich nicht, wie sonst in allen anderen Kinos der Stadt, still und leise da sitzen und so tun, als wäre man nicht da. Freies Kommen und Gehen während des Films sind nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Es darf gequatscht, laut gelacht und getrunken werden. Die Stimmung während des ersten Films ähnelt aber noch zu sehr der einer Arthouse-Vorführung. Das Publikum ist recht gemischt. Zwar dominieren hippe Berliner Mittzwanziger das Bild, vereinzelt lassen sich aber auch ältere Menschen erspähen. Eine Dame beschwert sich zwischenzeitlich, das hinter ihr so laut geredet wird. Sie kennt die Regeln halt nicht.
„Wir haben uns gestört daran, als Fans von trashigen Filmen, dass es in Berlin keine Nachtvorstellungen mehr gibt. Das Angebot gab es nicht.“ begründet Mathis die Entscheidung, die Bahnhofskino-Reihe ins Leben zu rufen. Die drei haben zwar einen film- bzw. theaterwissenschaftlichen Hintergrund, sind aber in erster Linie Cineasten. Ihre Programmreihe begreifen sie deshalb auch nicht als akademischen Filmgeschichtskurs. „Das sind Filme, die sonst in Retrospektiven nicht gezeigt werden.“ erklärt Leonhard. Auf die Idee kamen sie passenderweise bei einem privaten Videoabend. Dr. Caligari flimmerte über den Bildschirm; nicht der Stummfilmklassiker von Robert Wiene, sondern Stephen Sayadians erotisches Remake von 1989. „Sayadian will sich nicht entscheiden zwischen Kunst und Porno. Er zeigt auf, dass das gar nicht so unterschiedlich ist.“ erläutert Ipke enthusiastisch. Zeigt sich hier bereits das Paradigma der Bahnhofskino-Philosophie?
Die alten Grabenkämpfe zwischen Genre- und Autorenfilm, Mainstream und Nische, sind für die Programmierung unbedeutend. Die Filme werden nicht ausgewählt, weil sie besonders schlecht sind oder von Kritik und Publikum groß gefeiert werden. Das Wort „Trash“ ist allenfalls ein Label. Ohnehin ist die Bandbreite der bisher gezeigten Filme enorm. So standen neben japanischen Samuraifilmen und italienischen Giallos, auch der deutsche Underground der 70er sowie frühe Splatterfilme auf dem Programm. Die Filmauswahl wird allenfalls durch weltliche Probleme begrenzt. „Am liebsten würden wir nur obskure Filme aus den 70ern zeigen, aber die meisten sind einfach nicht auffindbar, weil die Rechte unklar sind.“ erklärt Mathis. Anfangs waren die Jungs völlige Anfänger, was die Akquisition von Lizenzen angeht. „Mittlerweile sind wir aber voll die Verhandlungsprofis.“ Das Bahnhofskino ist keine Piratenveranstaltung. Die Filme werden legal gezeigt und kosten Geld, auch wenn die Kuratoren selbst nichts dabei verdienen.
Jetzt ist es Mitternacht. Das Final Girls-Open-Air ist vorbei. Wer die zwei weiteren Filme der Nacht sehen will, muss nun hoch ins eigentliche Kino. Vor der Theke tummeln sich die Hartgesottenen. Von den über 100 Besuchern des Open-Airs sind ca. 30 geblieben. Es herrscht Kneipenstimmung. Die Wände sind mit Filmpostern tapeziert. Eine Couchecke steht zum Fläzen bereit. Der schwarzweiß gekachelte Boden führt in den mittelgroßen Saal, der nach alten Polstern müffelt. Neben der imposanten, gekrümmten Leinwand steht ein kleiner Ofen. Im Winter muss hier noch mit Holz geheizt werden.
Der zweite Film des Abends ist ein Klassiker: Sean S. Cunninghams Freitag, der 13. (1980), quasi die Blaupause des Summercamp-Slashers. Der Großteil des Publikums kennt den Film wohl schon. Alle halten sich einvernehmlich an die Regeln. Es wird also freimütig kommentiert und gelacht. Die Tür zum Thekenbereich steht die ganze Zeit offen. Silhouetten von rauchenden und trinkenden Leuten huschen immer mal wieder über die Leinwand. Patrick ist einer von ihnen. Er ist Besitzer eines Comicbuchladens und gerade wegen des Ambientes Stammgast der Reihe. Die Filme sind für ihn zweitrangig. Daher ist es auch nicht so schlimm, wenn er mal einen verpasst. Sein bevorzugter Rezeptionsplan: „Den ersten Film gucken, den Zweiten eigentlich gar nicht gucken und den Dritten so rein und raus laufend gucken.“
Das Kino ist in dieser Nacht mehr als nur ein anonymer Raum zum Filmkonsum. Es ist ein Erlebnis an sich: Ein Amalgam aus Filmvorführung, Publikumsreaktion und Ortspräsenz. Film und Zuschauer treten in einen sozialen Dialog. Die abgerockte Location sorgt für den nötigen Rahmen und das vor jedem Film die Runde machende Schnapstablett gibt den Rhythmus vor. Wir Kinder vom Bahnhofskino ist Event-Cinema ohne 3D oder IMAX und wandelt aufrührerisch im Niemandsland zwischen Kino, Kneipe und Wohnzimmer. Kurator Leonhard bringt es auf den Punkt: „Im Wohnzimmer hast du nicht das Gemeinschaftsgefühl, das es im Kino gibt. Hier wird es zum Leben erweckt.“ Ließe sich ein solches Event überhaupt mit Arthousefilmen realisieren? Braucht es nicht gerade Filme, die sich ihrem Publikum zuwenden, sich ihm ausliefern, die versuchen es zu affizieren? Ganz egal, wie sehr sie auch scheitern mögen?
Die „Niederlage“ des Abends liefert sicherlich der letzte Film im Programm. Madman (1981) von Joe Gianmone interessiert sich schon gar nicht mehr für kohärentes Erzählen. Mieses Handwerk gehört zum Trashfilm dazu. Für Ipke hat Handwerk aber auch nicht unbedingt etwas mit Kunst zu tun: „Ein Stuhl ist auch gut gemacht, ist aber etwas anderes als ein Kunstwerk.“Oftmals beweisen die Filme, dass sie trotzdem wirken, wenn auch nicht immer auf die intendierte Weise. Eine Sexszene im Whirlpool, in der sich Mann und Frau zu fürchterlicher Bumsmusik laufend um die eigene Achse drehen und hinter Schlieren von Weichzeichner verschwinden, zeigt besondere Resonanz. Der Saal bebt vor Lachen. Obwohl mittlerweile nur noch ein erlesener Kreis von fünf Personen das Kino bevölkert.
Draußen im Barbereich sieht es ähnlich aus. Es wird gequatscht, geraucht und getrunken. Die Kuratoren schenken aus und füttern derweil den Second-Screen mit neuen Inhalten. Der kleine Monitor steht auf dem Tresen und bietet allen Durstigen ein alternatives Filmerlebnis. Während ein Kunde auf sein Bierchen wartet, verlustiert sich gerade eine vollbusige Japanerin mit unzähligen Silikon-Tentakeln auf dem Bildschirm. Parallel wird im Kino das dritte Final-Girl der Nacht auf einem Fleischerhaken aufgehängt. Keine Sorge! Sie wird den Madman dennoch besiegen.
Die Sonne geht bereits auf und aus der spätesten Vorstellung wird letztlich die früheste der Stadt. Die eigentlichen Final-Girls sind dann die Kuratoren selbst, die nach all dem Spaß, den Filmrauschpalast wieder vom Schmutz des Bahnhofskinos befreien dürfen. Nebenbei wird das nächste Event im Juli beratschlagt. Verrückte Wissenschaftler sollen das Thema sein. Gezeigt wird unter anderem Frankenhooker – Verschraubt und genagelt (1990), einer der Lieblingsfilme von Bill Murray. Er ist natürlich ganz herzlich eingeladen, solange er hörbar kommentiert und fleißig mit trinkt.
Mad Science, die kommende Ausgabe des Bahnhofskinos findet am 7. Juli, ab 22 Uhr, im Filmrauschpalast statt. Weitere Infos gibt es HIER!