Kritik: The Life of Chuck (USA 2024)

– gesehen im Rahmen des 49. Toronto International Film Festival 2024 –

The Life of Chuck 2024 Tom Hiddleston

“I contain multitudes.”

Das oben aus Walt Whitmans Gedicht “Gesang von mir selbst” stammende Zitat ist eines der zentralen Leitmotive im neuen Film von Mike Flanagan (Doctor Sleep, 2019). Darin drückt Whitman aus, dass Menschen nicht auf simple oder konsistente Weise definiert werden können und dass Widersprüche ein natürlicher Teil des menschlichen Wesens sind. Nachdem der Regisseur in den letzten Jahren hauptsächlich mit nervenaufreibenden Netflix-Horrorserien wie Spuk in Bly Manor eine treue Zuschauerschaft um sich herum versammeln konnte, lockt es ihn mit The Life of Chuck nun zurück ins Kino. Seine neue Regiearbeit ist hierbei gleichermaßen Katastrophendrama, surreales Mysterium, schwarze Komödie, Musical und Coming-of-Age-Geschichte. All diese Elemente verschmilzt er zu einer zutiefst berührenden und poetischen Reflexion über die Vergänglichkeit des Lebens.

Wenn die Netflix-Taste auf der Fernsehbedienung nutzlos geworden ist, muss etwas Dramatisches passiert sein. Nicht nur in Kalifornien, sondern weltweit steht das Internet still; Erdbeben bringen den Verkehr zum Ruhen und verschlingen ganze landwirtschaftliche Regionen; die Selbstmordrate steigt so stark an, dass Ärzte sich zynisch selbst als “Suicide Squad” bezeichnen… Inmitten dieses gesellschaftlichen Zusammenbruchs befindet sich der Lehrer Marty Anderson (Chiwetel Ejiofor), der verzweifelt versucht, die Eltern seiner Schüler zu beruhigen und in diesem Chaos eine Chance erkennen. Doch die berechtigte Frage bleibt: “How can you go back without it [the internet]?” Die einen versuchen es damit, statt mit dem Auto zu fahren zu Fuß zu gehen. Andere genießen den Sonnenuntergang. Marty greift auf das tägliche TV-Programm zurück, um sich zu besänftigen – wie die Menschen es früher taten, um sich abzulenken. Bis schließlich auch die Fernsehsender nichts mehr ausstrahlen – was nun?

Es handelt sich um den dritten von drei Akten, basierend auf Stephen Kings gleichnamiger Kurzgeschichte aus dem Jahr 2020. In The Life of Chuck ist die Erzählstruktur auf den Kopf gedreht, das Ende an den Anfang gestellt. Der Film beginnt mit einem übernatürlichen Knall, doch trotz dieses dramatischen Einstiegs hält die Geschichte weiterhin überraschende Wendungen bereit. Im Verlauf dieses dritten Akts tritt auch Charles ‘Chuck’ Krantz (gespielt von Tom Hiddleston) auf – ein Mensch, den scheinbar niemand kennt, der jedoch überall präsent ist. Wie eine mysteriöse Berühmtheit taucht Chuck an jeder Ecke auf: als Graffiti an Hauswänden, auf Werbeplakaten (“39 Great Years! Thanks, Chuck”) und schließlich als übernatürliches Hologramm in den Fenstern der Bewohner von Los Angeles.

The Life of Chuck Film 2024

Wer dieser Chuck eigentlich ist, erfährt man erst im zweiten Akt: ein Mann Ende dreißig auf Geschäftsreise, der es offensichtlich im Leben zu etwas gebracht hat. Doch was er noch nicht weiß – seine Zeit ist begrenzt, in nur neun Monaten wird er an einem Gehirntumor sterben. Chuck ist anscheinend jemand, der im Leben erfolgreich ist, er hat auch eine Frau und einen Sohn… Aber was ist eigentlich aus seinem Lebenstraum geworden. Dessen wird sich Chuck in einer der schönsten Filmszenen des Jahres bewusst, in der Mike Flanagan und Tom Hiddleston die spontane Freude des Lebens feiern – ganz im Stil des zeitlosen Musicalklassikers Singin’ in the Rain, jedoch unter strahlendem Sonnenschein.

In dieser Szene ist Chuck ebenso verblüfft wie das Publikum darüber, dass er so professionell tanzen kann. Es wird ihm klar, dass er bisher nur im eintönigen Beat des Alltags gelebt und dabei seine eigentlichen Lebensträume aus den Augen verloren hat. Lohnt es sich wirklich nur für ein flüchtiges “Dankeschön” Tag für Tag einen Ort zu aufzusuchen, der uns innerlich nichts gibt und am Ende vielleicht sogar einen Tumor beschert?

“Die Mathematik lügt nie”, predigte Chucks Großvater (grandios gespielt von Mark Hamill) ihm schon als Kind. Im ersten Akt werden Chucks ursprüngliche Lebensträume enthüllt – und wie diese durch die nüchterne Logik der Mathematik jäh zerschlagen wurden. Der Beruf als Buchhalter sei eben gefragter und sichere besser das Überleben als die Karriere als Tänzer, so die rationale Entscheidung. Mike Flanagans apokalyptische Komödie ist eine zutiefst tragische, aber auch hoffnungsvolle Reflexion darüber, wie wir unsere Träume für Sicherheit opfern und was dabei auf der Strecke bleibt.

In The Life of Chuck demonstriert Flanagan wahrlich gekonnt, wie er es versteht, das Unerwartete mit emotionaler Tiefe und humanistischen Momenten zu verweben (gänzlich für diejenigen, die Stephen Kings Vorlage nicht kennen). Flanagan bricht bewusst mit den Konventionen des Horrorgenres und taucht ein in eine Welt, die voller surrealer, tragischer Schönheit steckt. The Life of Chuck erinnert an die Zerbrechlichkeit unserer Existenz und ist eine Ode an das Leben, so vergänglich es auch sein mag. Flanagan beweist mit diesem Werk, dass er weit mehr ist als ein Regisseur des Schreckens – er ist ein Geschichtenerzähler, der es auch fast gänzlich ohne Spukmomente versteht, tief unter die Haut zu gehen.

Kinostart: noch unbekannt
Regie: Mike Flanagan
Darsteller: u.a. mit Tom Hiddleston und Mark Hamill
FSK-Freigabe: keine Angabe
Verleih weltweit: FilmNation Entertainment
Laufzeit: 1 St. 50 Min.

★★★★★★★☆

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