Am Sonntag ging die Berlinale 2018 zu Ende – und gefühlt bin ich noch mittendrin, was vielleicht auch daran liegt, dass ich den Montag genutzt habe, um eine ordentliche Mütze Schlaf nachzuholen. Alles in allem war es für mich ein erstaunlich gutes Berlinale-Jahr, denn nachdem ich mir in den ersten Tagen des Festivals mit fast schlafwandlerischer Sicherheit die schrecklichsten Filme herausgepickt hatte, folgten noch einige echte Höhepunkte. Neben Thomas Stubers melancholischer Arbeitergeschichte In den Gängen, konnten mich die bulgarisch-deutsch-französische Koproduktion Ága von Regisseur Milko Lazaro und die grandiose Dokumentation Inland Sea (Minatomachi) von Kazuhiro Soda begeistern. Thematisch sind beide Filme ähnlich gelagert: es geht um Veränderung, unfreiwillig herbeigeführt durch die neuen Lebensansprüche der jüngeren Generationen und einen gesellschaftlichen Wandel. Es geht um die von der Gesellschaft Vergessenen, Relikte einer vergangenen Zeit, die sich mit schwindenden Kräften an ihre Erinnerungen und Traditionen klammern, um den gesellschaftlichen Wandel zu verarbeiten.
Ága von Regisseur Milko Lazaro erzählt die Gesichte vom Eisfischer Nanook (Mikhail Aprosimov) und seiner Frau Sedna (Feodosia Ivanova), die irgendwo in den schneebedeckten Weiten Jakutiens ein Leben fernab des technologischen Fortschritts führen. Ihre Kinder sind in die Stadt gezogen, das harte, einfache Leben in der Fellhütte der Eltern war nicht mehr vereinbar mit dem Anspruch von einem modernen Leben. Nanook, dem die mythenreiche Kultur näher ist, als der technische Fortschrittsgedanke, hat im Streit mit seiner Tochter Ága gebrochen, die sich gegen die Lebensweise ihrer Eltern entschieden hat und in einer Diamantenmine nahe der Stadt arbeitet. Ága ist ein naturalistisch, fast dokumentarisch inszeniertes Drama, das ohne viele Worte auskommt und die Emotionen eher über seine Bilder auf den Zuschauer überträgt. Die atemberaubenden Panoramaaufnahmen der endlos erscheinenden Schneewüste Jakutiens, in der die Sagen und Legenden noch bestand haben können, wo jedem Donnergrollen oder Tierkadaver noch als böses Omen gelesen werden kann, in der Aufklärung und technischer Fortschritt keinen Bestand haben, müssen im Kino gesehen werden, um die Größe dieses intimen Dramas begreifen zu können. Ága braucht wenig Worte, denn der zermürbende Kraftakt des Eisfischens, der gnadenlose Kampf gegen einen Schneesturm oder auch das zärtliche Beieinanderliegen der beiden Protagonisten sind Bilder, die keines größeren Kommentars bedürfen, sondern bereits ihre eigene Geschichte in sich tragen.
Regisseur Kazuhiro Soda hält in seiner Dokumentation Inland Sea (Minatomachi) den schleichenden Untergang des beschaulichen Fischerdorfs Ushimado fest, dessen Einwohnerzahl der rapide voranschreitenden Überalterung anheim fällt. Das Leben ist hart, beschwerlich und nicht mehr lohnenswert. Langsam drohen Katzen die Insel zu übernehmen. Die sympathischen Streuner haben es sich in der verschlafenen Atmosphäre des Fischerörtchens gemütlich gemacht und bevölkern auch die Aufnahmen des Regisseurs Kazuhiro Soda. Der Fischer Wai-Chan, einer der kleinen Helden des Films, hat inzwischen vergessen, ob er 70 oder 86 Jahre auf dem Buckel hat. Wahrscheinlicher seien aber die 86 Jahre. Inzwischen kann Wai-Chan kaum noch hören und auch das Laufen fällt ihm sichtlich schwer. Dennoch sitzen die Handgriffe auf seinem kleinen Fischkutter perfekt, scheinen in eingespielter Automatik abzulaufen. Inzwischen denkt Wai-Chan sogar über den Ruhestand nach, denn das Geschäft läuft schlecht – Der Fischpreis sinkt, während die Preise für die benötigten Materialien steigen. Ein Jahr will er dennoch noch täglich auf das Meer fahren, mit 87 sei dann aber endgültig Schluss. Es fällt schwer zu glauben, dass dieses gekrümmt durch das Bild wankende Hutzelmännchen überhaupt außerhalb seines kleinen Fischerbootes bestand haben kann. Regisseur Kazuhiro Soda hat mit Inland Sea (Minatomachi) einen unaufgeregten Dokumentarfilm gedreht, der einer intimen Momentaufnahme gleicht. Es ist ein Ausschnitt aus dem heutigen Japan, der irgendwie aus der Zeit gefallen scheint. Die Zeit, bemerkt Wai-Chan in einer Szene, spürt man erst ab 85, denn dann geht es mit dem Zustand des Körpers rapide bergab.
Abschließend möchte ich zu den Gewinnern den diesjährigen Berlinale-Preisträgern noch ein paar Worte verlieren – auch wenn ich zu diesem Thema nur bedingt eine Einschätzung geben kann, da ich weder den Film Touch Me Not der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie gesehen habe (Goldener Bär), noch die Filme La Prière (Darsteller-Preis für Anthony Bajon) oder Las Herederas (Auszeichnung für Ana Brun als Beste Darstellerin). Dennoch werden im Berlinale-Treiben im Verlauf der Woche Favoriten ausgemacht, die im Feuilleton oder den Pressevorführungen ausführlich besprochen werden – und Touch Me Not, einem filmischen Experiment, war in dieser Woche nur durch die eindringliche Besprechung der Nackt-/Sexszenen aufgefallen. Ansonsten wurde der Film eher in die Kategorie „Gute Idee/Schwache Umsetzung“ eingeordnet. Nicht nur der Goldene Bär für Touch Me Not war eine Überraschung, auch die Auszeichnung für das beste Drehbuch ging an einen unerwarteten Kandidaten: Der mexikanische Beitrag Museo von Regisseur Alonso Ruizpalacios konnte sich in dieser Kategorie gegen seine Konkurrenten durchsetzen. Dabei lag die Stärke des Films definitiv nicht im klassisch konzipierten Heist-Drehbuch, sondern wohl eher in dessen verspielter Umsetzung. Auch die Wahl von Wes Anderson als Preisträger für die beste Regie dürfte für Verwunderung gesorgt haben, schließlich handelt es sich bei Isle of Dogs um einen Stop-Motion-Animationsfilm, bei dem die Vermutung nahe liegt, dass Anderson, wie schon bei Der fantastische Mr. Fox, seine Regieanweisungen wieder per Mail dem Animationsstudio hat zukommen lassen. Inzwischen herrscht ja die Meinung vor, dass die Jury um den deutschen Regisseur Tom Tykwer mit ihrer Wahl eher ein Statement setzen wollte. Ein Experimentalfilm als Aushängeschild des größten deutschen Filmfestivals? Warum nicht, der Berlinale stünde eine Frischzellenkur sowieso gut zu Gesicht. Im Kampf um die internationale Relevanz droht die Berlinale seit einigen Jahren immer weiter ins Hintertreffen zu geraten. Die Stars von Rang und Namen bevorzugen andere Festspiele und auch seinen Ruf als größtes Publikumsfestival der Welt musste die Berlinale inzwischen an Toronto abgeben. Dabei mag es auch eine Rolle spielen, dass die Berlinale unter Intendant Dieter Kosslick vermehrt auf politische Inhalte setzte. Natürlich war und ist die Berlinale immer ein politisches Festival gewesen, doch zu den Preisträgern der vergangenen Jahre zählten Filme, bei denen einen das Gefühl beschlich, dass sie weniger auf Grund ihrer künstlerischen Qualitäten ausgewählt worden waren, sondern eher, weil sie eine Auseinandersetzung mit politischen Problemfeldern nicht scheuten, die zudem noch gut ins Profil der Berlinale passten. Touch Me Not scheint daher ein Bruch mit dieser Tradition, ein erstes Lebenszeichen einer „neuen Berlinale“, in der die künstlerische Form über den Inhalt gestellt wird. Dementsprechend werde ich versuchen, den Film schnellstmöglich nachzuholen und mir selbst ein Bild vom Gewinner des diesjährigen Berlinale-Festivals zu machen.
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