Endlich zurück in Cannes…
… und das trotz allem, was vor ein paar Monaten noch dagegenzusprechen schien. Jetzt bin ich schon den dritten Tag an der weltbekannten Croisette und das Festival zeugt davon, dass die Coronakrise auch Chancen mit sich bringen kann. Statt ewig Schlange stehen zu müssen, so wie es in der Vergangenheit der Fall war (und dabei eventuell auch mal wegen nur geringer Unpünktlichkeit keinen Platz mehr zu kriegen), reserviert man sich bei der 74. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele von Cannes die Plätze nun rechtzeitig online und hat diese dann, sobald bestätigt, auch sicher. Insofern konnte ich mir bisher aucb alle Filme anschauen, welche ganz oben auf meiner To-Watch-Liste standen. Und eine super Zeitersparnis ist dies obendrein, Cannes ist deutlich weniger stressig wie 2017 als ich mein Cannes-Debüt hatte. Wenn man dann auch noch das eigene Tagesprogramm im Rahmen hält und sich nicht fünf oder mehr Filme am Tag anschaut (ja, ich habe schon mit einer Person gesprochen, die sich darüber beschwert hat, dass ihr deswegen alles zu stressig sei), bleibt sogar die Zeit dafür, um zwischendrin mal gemütlich zum Essen oder an den Strand zu gehen.
Ich selbst kann mich also nicht beschweren… ich habe drei bis vier Filme pro Tag für mich geplant, das Wetter ist perfekt und Cannes passt meiner Meinung nach fast noch besser zur hochsommerlichen Atmosphäre als zum Mai, der bisher alljährlich der Austragungsmonat sein durfte. Und ein Bombenalarm oder technische Fauxpas wie 2017 blieben bisher auch aus. Man könnte also sagen, dass ich hier vor Ort bisher wunschlos glücklich bin (viele meiner tagtäglichen Eindrücke teile ich übrigens auf Instagram). Doch eine Sache, um nun auch zum Filmprogramm zu kommen, ist noch etwas unschön: Ich vermisse nach den ersten drei Tagen noch immer die wirklich herausragenden Festivalbeiträge.
Regiearbeiten, die meiner Meinung nach nicht ins Kino gehören
Bevor ich zu den bisher sehenswerten Beiträgen komme: Es gab bereits Filme, die meiner Ansicht nach überhaupt keinen Platz im Festivalprogramm verdient haben. Angefangen mit der bisher größten Ernüchterung, Andrea Arnolds Cow… oder wie ich die Dokumentation betiteln würde: “Der triste Lebensalltag einer Kuh”. Ja wirklich, die Hauptdarstellerin in der neusten Arbeit der britischen Regisseurin (deren Fish Tank und Wuthering Heights ich sehr schätze), spielt ein weibliches Rind. Die Absicht dahinter, dessen unwürdiges Leben auf einem Großbauernhof mit der Kamera hautnah zu begleiten und deren Emotionen (beispielsweise bei der Geburt eines Kalbs) festzuhalten, ist aus konsumkritischer Sicht sicherlich nett gemeint. Ebenso ist es lobenswert, dass Andrea Arnold hierbei glücklicherweise auf eine musikalische Untermalung sowie auf ein dokutypisches Voice Over verzichtet, somit den Zuschauer also über die komplette Laufzeit den eigenen Gedanken überlasst. Doch erhellender oder kinotauglicher, als irgendeine eine andere Dokumentation dieser Art, machen diese beiden Punkte das filmische Essay trotzdem nicht. Immerhin wird Cow noch außerhalb des Wettbewerbs in der Sektion Cannes Premiere gezeigt, ganz hingegen zum semi-interessanten isrealischen Ahed’s Knee (Ha’barech), der auf für mich unerklärliche Weise als Wettbewerbsbeitrag ausgewählt wurde.
Zwei weitere Dokumentationen sind zwar grundsätzlich nicht uninteressant, doch gehören auch diese einfach nicht ins Kino. Das ist einmal Charlotte Gainsbourgs autobiograpische Auseinandersetzung mit ihrer Mutter Jane Birkin, die an der Seite zweier Musikerlegenden bekannt wurde, dem Filmkomponisten John Barry (James Bond) und der französischen Chanson-Legende Serge Gainsbourg. Das Ergebnis ist eine solide Dokumentation über das Verhältnis einer Tochter zu ihrer Mutter, welche Fans des Gainsbourg-Klans sicherlich gefallen dürfte. Eine Streaming- oder TV-Auswertung reicht hier jedoch vollkommen aus, braucht man sich nicht im Kino anzuschauen.
Bei Val, dem Dokumentarfilm über das tägliche Leben des Schauspielers Val Kilmer mit nie zuvor gesehenem Filmmaterial aus den letzten 40 Jahren, wurde das Dilemma bereits erkannt. Es wurde schon ein erster Trailer von Amazon Studios veröffentlicht und die für Kilmer-Fans durchaus sehenswerte Doku, in welcher auch seine Krebskrankheit zur Sprache kommt, wird ab dem 6. August exklusiv bei Amazon Prime zu sehen sein.
Eine weitere Enttäuschung…
Neun Jahre nach dem bemerkenswerten Holy Motors (für mich einer der besten französischen Filme der letzten Jahrzehnte) habe ich in Cannes als Eröffnungsfilm nun endlich den neuen Film von Leos Carax, das mit Marion Cotillard und Adam Driver phänomenal besetzte Musicaldrama Annette, gesehen. Es ist Leos Carax‘ erster englischsprachiger Film, welcher im heutigen Los Angeles spielt und die Geschichte von Henry, einem Stand-up-Comedian mit einem ausgeprägten Sinn für Humor, und Ann, einer Sängerin von internationalem Ruf, erzählt. Im Rampenlicht stehen sie für das perfekte Paar, machen einen gesunden, glücklichen und glamourösen Eindruck. Die Geburt ihres ersten Kindes Annette verändert jedoch ihr Leben.
Leos Carax ist ein ebenso exzentrischer wie rätselhafter Regisseur, dem das französische Kino der letzten Jahrzehnte einige der schönsten und ungewöhnlichsten Momente verdankt. Carax ist ein poetisches Genie und hat mit seiner überbordenden Vorstellungskraft die Regeln des Kinos immer wieder konsequent überschritten, um eine Welt voller Visionen und Geister zu erschaffen. Auf die Spitze trieb er dies 2012 mit Holy Motors (Trailer), welcher wahrhaftig ein einziges cineastisches Faszinosum darstellt. Wer Leos Carax surrealen Trip durch Paris noch nicht gesehen hat, sollte dies ganz dringend nachholen. Annette hingegen hat mich nun nicht nur im positiven Sinne ratlos zurückgelassen.
Nach einer kraftvoll erzählten ersten Stunde verliert das düstere Musical leider immer mehr die Orientierung, passé sind die bis zum Abspann anhaltenden begeisterungswürdigen Momente wie noch in Holy Motors. Dass Carax neun Jahre an seiner skurillen Mixtur aus La La Land, Mulholland Drive , Szenen einer Ehe und Chucky gearbeitet hat, davon zeugen vielleicht einzelne Episoden, doch das Endresultat wirkt unausgegoren. Sehenswert ist diese Freakshow (Adam Drivers Performance ist wirklich irre gut, wohingegen Marion Cotillards Talent erneut in einer englischsprachigen nicht voll ausgereizt wird) aber trotzdem, eben weil Carax Cannes-Spalter in mancher Hinsicht erneut Grenzen überschreitet und sich an etwas in Hollywood noch nie Dagewesem probiert.
Die bisherigen Highlights
Auch Frankreich hat dieses Jahr seinen The Father, dank Festivalliebling Francois Ozon (Jung und Schön, Frantz), der es irgendwie mit jedem Film aufs Neue nach Cannes schafft. Dieses Mal widmet sich Ozon nach langer Zeit aber mal wieder einem im wahrsten Sinne todernsten Thema, das Drama ist dabei obendrein mit Sophie Marceau und André Dussolier famos besetzt. Und wer hätte nach einer Karriere, die sich hauptsächlich durch die beiden Filme La Boum – Die Fete und James Bond- Die Welt ist nicht genug* auszeichnet, gedacht, dass Marceau eine so tolle Charakterschauspielerin sein kann. Wundervoll subtil spielt sie Emmanuelle, die Tochter des 85-jährigen André. Als dieser einen Schlaganfall erleidet, eilt sie ans Bett ihres Vaters. Krank und halb gelähmt in seinem Krankenhausbett bittet er Emmanuelle, ihm dabei zu helfen, sein Leben zu beenden. Aber wie kann man solch eine Bitte überhaupt ernst nehmen? Tout S’Est Bien Passé setzt sich wirklich gekonnt mit einem peniblen Thema auseinander: Der kaufbaren Selbstmordhilfe in der Schweiz. Sicherlich ein bourgoises Problem, doch genau das bringt Ozon auch zwischendrin gekonnt mit passendem Humor auf den Punkt.
Bisheriges Cannes-Highlight Nummer 2 ist der Niemals selten manchmal immer des tschadischen Filmemachers Mahamat-Saleh Haroun. Das afrikanische Abtreibungsdrama Lingui – The Secret Bonds erzählt mit Hilfe bewegender Bilder und Schauspielleistungen von Amina, einer praktizierenden Muslimin, die allein ihre 15-jährige Tochter Maria erzieht. Als Amina erfährt, dass Maria schwanger ist und das Kind abtreiben will, geraten sie in eine unmögliche Situation in einem Land, in dem die Abtreibung gesetzlich verboten ist. Die an den Abspann anschließenden fünf Minuten langen Standing Ovations waren für dieses mehr als sehenswerte Coming-Of-Age-Drama, welches Afrika mal fernab der typsichen Klischess zeigt, verdient.
Das war nun mein erstes Recap von der Croisette. Zwischenzeitig wird es sicherlich die eine oder andere ausführlichere Kritik geben, z.B. zu Paul Verhoevens Benedetta. Und zur Halbzeit gibt es weitere Eindrücke, u.a. zu Joachim Triers The Worst Person in the World (Julie en 12 chapitres), Sean Penns Flag Day, Ari Folmans Animationsfilm Where is Anne Frank und Wes Andersons The French Dispatch.
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