Kritik: The Second Act (FR 2024)

Eine Gastkritik von Michael Gasch

– gesehen im Rahmen der 77. Internationalen Filmfestspiele von Cannes –

The Second Act Film 2024

Reality is reality. Period!

Quentin Dupieuxs Filme sind, gelinde gesagt, sonderbar. Nicht selten tritt der französische Filmemacher dem Publikum auf den Schlips, und nicht selten teilt er Seitenhiebe gegen Kunstproduzenten und -konsumenten aus, indem er einen unkonventionellen Film nach dem anderen auf die Welt loslässt. Erst letztes Jahr nahm er sich den surrealen Künstler Salvador Dalí vor und brachte mit Daaaaaali! ein nicht minder surreales Kunstwerk heraus. Daran anknüpfend folgte Yannick, in dem das Theater metaphorisch gesprochen durch eine Käsereibe gerieben wurde. Im Stile einer paradigmatischen Trilogie wird nun mit The Second Act (Le Deuxième acte) die Kunstwelt ein drittes Mal analysiert, und das sowohl ernsthaft als auch humorvoll.

Ein Mann begibt sich zur Arbeit, ein Männerduo echauffiert sich über Cancel-Culture und Political Correctness, und ein Tochter-Vater-Gespann haben eine intensive Auseinandersetzung über die Zukunft der Welt. Was zu Beginn noch unabhängig voneinander existiert, wird im Laufe der Geschichte zusammengeführt. Hinzu kommt ein Kellner, der nicht am rechten Platz ist, und jede Menge schräger Humor. Weitere Ausführungen zur Narrative von The Second Act erübrigen sich (man schaue nur den Trailer am Ende der Kritik). Wie könnte es auch anders bei Dupieux sein? Nicht die Geschichte ist das Ausschlaggebende, sondern das, was zwischen den Zeilen passiert. Es beginnt schon ganz zu Beginn, wenn die Geschichte noch nicht einmal angefangen hat und das große rote N das Bild ziert. Ein Netflix-Film in Cannes? Wie das einst 2017 mit Okja als ersten Netflix-Film in Cannes funktioniert hat, könnt ihr ja einmal Philippe fragen (mehr dazu). Das hält Dupieux jedoch in keinster Weise davon ab, durchaus interessante Fragen über die Gegenwart zu stellen: Was darf noch gesagt werden und was nicht? Was muss ein Schauspieler mitbringen? Was ist Kunst und was nicht? Und wo kommt diese sentimentale Musik plötzlich her?

Es folgt ein ulkiger Abriss, ganz im Sinne Dupieuxs: Das Durchbrechen der vierten Wand, Film im Film und noch viele weitere Spielereien kommen zum Einsatz, so dass auch The Second Act ein einmaliges Filmerlebnis bietet. Auffällig ist dabei besonders, wie nahe Mainstream und Intellekt nun beieinanderliegen. Abstruses Indie-Kino trifft auf den Kriterienkatalog von Netflix, vor ein paar Jahren wäre dies noch undenkbar gewesen. Dass der Vorgängerfilm Yannick einen exklusiven Platz auf MUBI fand und es nun mit Netflix weitergeht, bietet schon allein massives Diskussionspotential darüber, in was für einer transformatorischen Zeit wir momentan leben. Während Marvel immer intensiver künftige Produktionen einstampft und eine Idee nach der anderen verwirft (33 Marvel-Produktionen wurden laut Screenrant nach aktuellem Stand gestrichen), ziehen verkopfte Produktionen bei den großen Streaming-Giganten ein.

The Second Act Louis Garrel

Ob das an fehlenden Streaming-Alternativen liegt? Oder doch eher an der Krise, in der Hollywood aktuell steckt? The Second Act liefert keine Antworten darauf, sondern teilt viel lieber Seitenhiebe gegen Hollywood, Fiktionalität und – last but not least – Künstliche Intelligenz und Algorithmen aus.

Das Resultat ist unterhaltsam, schräg, mit Louis Garrel, Léa Seydoux sowie Vincent Lindon hervorragend besetzt und vor allem überraschend – was sich Netflix sicherlich deutlich zunutze machen wird. Denn genau das ist es wohl, wonach sich viele Filmkonsumenten sehnen werden, nachdem die Watchlist großer Produktionen leer ist. Nachdem Regisseure und das ganze Filmsystem jahrzehntelang die konformen Regeln aufgebaut und gefestigt haben, wie Kino funktioniert, lässt es sich Quentin Dupieux nicht nehmen, all das mit einem Presslufthammer zu bearbeiten. Das wird im Falle von The Second Act an diversen Momenten für den einen oder anderen etwas zu viel des Guten sein, denn die Experimentalproduktion stellt nicht den einsteigerfreundlichsten Film des Franzosen dar.

Sie erreicht sogar konfrontierende Züge Jean-Luc Godards (Weekend). In der Gesamtheit ist Dupieux aber alles andere als ein egozentrischer Regisseur, denn auch er spielt nach gewissen Regeln. Der sukzessive Trend in Richtung Radikalität springt dabei besonders ins Auge: Während Daaaaaali! einen perfekten Einsteigerfilm abgibt und Yannick ein paar Gehirnzellen mehr erfordert, bietet es sich im Falle The Second Act wohl am besten an, vorher eine Flasche Wein zu trinken. Damit steht einem tollen Filmabend dann absolut nichts mehr im Wege.

Es steht leider noch nicht fest, ob The Second Act in Deutschland in den Kinos laufen oder direkt bei Netflix erscheinen wird.

★★★★★★☆☆

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.