Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?
Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?
Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?
Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?
Die NS-Zeit ist das schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte. Mit dieser Zeit müssen wir uns jedoch beschäftigen und auseinandersetzen, ob wir wollen oder nicht. Mit Filmen, Dokumentationen und dem verhassten Geschichtsunterricht wird uns geholfen, dieser Zeit näher zu kommen und die Grausamkeit zu erkennen. Roman Polanski, der selbst Teil dieser Zeit wurde, inszenierte mit Der Pianist 2002 einen Film, der sich auf schonungslose und unglaublich emotionale Weise der Judenverfolgung widmet.
Warschau 1939: Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen beginnt auch für den gefeierten polnisch-jüdischen Pianisten Wladyslaw Szpilman die Zeit des Leids. Tagtäglich wird er Zeuge unerträglicher Demütigung und Brutalität. Nur mit viel Glück und dank der Hilfe des polnischen Untergrunds konnte er der Todesfalle des Warschauer Ghettos entkommen. Voller Angst irrt er allein durch die Stadt, die sich inzwischen in eine leblose, erschütternde Ruinenlandschaft verwandelt hat. Eines Tages entdeckt ihn ein Offizier der deutschen Wehrmacht, der sein Schicksal verändern wird.
Wie ich schon oft genug erwähnte, die visuelle Klasse bei einem Film von Roman Polanski steht immer außer Frage. So ist es eben auch bei Der Pianist. Paweł Edelman lässt mit seinen Bildern keine Distanz zwischen ihnen und dem Zuschauer und erzeugt so eine der besten und umklammerndsten Atmosphären überhaupt. Man denke allein an die Szene, in der Adrien Brody über eine Mauer klettert und sich vor ihm eine Ruine an die andere reiht. Eine Szene, wie sie fast aus einem Endzeitfilm entstammen könnte. Fantastisch fotografiert. Die musikalische Untermalung findet der Film vor allem durch die Stücke die Szpilman selbst spielt, dabei greift er meistens auf Stücke von Chopin zurück. Aber auch der komponierte Soundtrack von Wojciech Kilar ist voller Trauer und Ehrlichkeit, die genau zum Film passt.
Von den Schauspielern gesehen ist allein Adrien Brody wirklich erwähnenswert. Er übernimmt die Hauptrolle und verkörpert Wladyslaw Szpilman, einen Künstler der die Menschen mit seiner Musik verzaubern möchte und in einen unermesslich tiefen Abgrund gestoßen wird. Brody bewiest zu was für Meisterleistungen er in der Lage ist und ruft mit Abstand seine beste Karriereleistung ab. Jede Emotion, jede Bewegung, alles ist echt. Brody lässt den Zuschauer mitleiden und mitgehen, egal wie weit der Weg noch sein mag. Man kämpft und hofft mit ihm, Seite an Seite. Zur Belohnung gab es glücklicherweise den verdienten Oscar.
Roman Polanski hat sich dieser Thematik nicht grundlos angenommen. Filme über diese Zeit gibt es schließlich genügende. Der Pianist ist Polanskis ganz persönlicher Bewältigungsversuch und der Versuch mit dieser Zeit abschließen zu können. 1942 kam Polanskis schwangere Mutter im Konzentrationslager von Auschwitz ums Leben. Polanski, selber im Krakauer Konzentrationslager gefangen, konnte aber bei Nacht und Nebel im zarten Alter von 10 Jahren fliehen. Diese furchtbaren Erlebnisse fließen natürlich mit in den Film und machen ihn zu einem grausamen aber gleichzeitig auch zu einem ungemein berührenden Film.
Mit Wladyslaw Szpilman schickt uns Polanski durch die schrecklichste Zeit. Durch eine Zeit, in der es an jeglicher Menschlichkeit und Wärme fehlte. Diese Zeit stellt Polanski in einer derart erschreckenden Konsequenz dar, dass es schon beängstigende Normalität annimmt. Die deutschen Soldaten gehen in ihrem Handeln so herzlos und gewissenlos vor, als würden sie seit dem Tage der Geburt nichts anderen mit Menschenleben tun. Als Zuschauer entwickelt man bei der Ansicht der puren Brutalität immer mehr Wut. Polanski ist in seiner Inszenierung brutal und kennt keine Gnade, wie die Täter selbst. Die Kamera hält voll drauf und nichts wird verschwiegen. Kinder werden totgeprügelt, Menschen werden auf Haufen geworfen und verbrannt, während deutsche Soldaten sich das Feuer anschauen und ihr essen zu sich nehmen. Ein Mann im Rollstuhl wird ohne weiteres aus dem Fenster geworfen und es werden unzählige Juden nach Lust und Laune erschossen und verprügelt. Hier gibt es kein Wegsehen, hier gibt es nur den puren Realismus.
Szpilman ist kein Held, er wird auch als zu keiner Zeit als heldenhaft dargestellt. Wir erleben einen Musiker, einen völlig normalen Menschen, der aus seinem Leben gerissen wird und in eine furchtbare Epoche gestoßen wird. Dabei realisiert er nicht in welchem Ausmaß die Deutschen vorgehen. Er durchlebt die Zeit und nimmt diese Gräueltaten und die täglichen Erniedrigungen einfach hin. Abgemagerte Leichen verwesen auf den Straßen. Kinder, Frauen, Männer. Es wird wahrgenommen, aber darüber hinweggesehen. Szpilman ist, wie jeder andere in dieser Situation, ein gefangener dieser Zeit und das wahre Annehmen und Verstehen, was hier wirklich passiert, ist noch nicht vorgedrungen.
Er wird durch “Glück im Unglück” von seiner Familie getrennt, die auf dem direkten Weg ins KZ gefahren werden. Er hingegen bleibt in Warschau, oder in den Resten was davon übrig geblieben ist. Allerdings im “Seuchengebiet”. Hier wird er nun als Arbeiter abgestempelt und muss schuften. Doch das Grauen kennt kein Ende. Die Angst vor dem nächsten Tag ist immer beständig. Stundenlanges Arbeiten, Schläge und kaum etwas zu essen. Die erschreckende innere Leere der Soldaten, die mit Menschen umgehen als wären sie Dreck. Jeden Tag aufs Neue wird diese Leere und Verdorbenheit bewiesen. Die Wut und Fassungslosigkeit im Zuschauer staut sich mehr und mehr an. Ein Blick in die Gesichter dieser hoffnungslos verloren Menschen zerreißt das Herz. Doch Tränen fließen nicht. Noch nicht.
Wir leben weiter, oder besser gesagt, wir versuchen es, zusammen mit Szpilman. Durch alte Freunde wird ihm geholfen und ein nötiges Versteck geboten. Er darf nicht auffallen und muss völlig untertauchen. Der Gedanke an Musik hält ihn am Leben. Die einzige Zuneigung die er noch spüren kann sind die Klaviertasten unter ihm, die er mit seinen Fingern nicht berühren darf. Nach und nach zerfällt Warschau zu Schutt und Asche. Eine Ruinenlandschaft. Szpilman, völlig abgemagert und mit Vollbart, schlägt sich durch die Trümmer der Stadt und der verlorenen Menschlichkeit. In einer Wohnungsruine, in der er Essen suchte, wird er von einem Hauptmann entdeckt. Szpilman sieht sein Ende kommen, doch auch die größten Schattenseiten kennen ihre hellen Momente. Nachdem Szpilman den Hauptmann von seinen grandiosen Klavierkünsten überzeugen konnte, hilft dieser ihm über die Runden zu kommen und die grausamen letzten Tage zu überstehen. Der Tag kommt, an dem die Russen einmarschieren und sich das Blatt endlich wendet.
Polanski baut auf echte Emotionen. Gestellt oder gar überzogen wirkt hier nichts. Er drückt dabei zu keinem Zeitpunkt auf die Tränendrüse. Polanski will die Menschen erreichen, lässt aber keine schnöde und eintönige Geschichtsstunde daraus werden. Er will den Zuschauern die Augen öffnen und zeigen, in was für einer Zeit unschuldige Menschen qualvoll zugrunde gingen. Eine Zeit ohne klaren Verstand. Er lässt uns fast 150 Minuten leiden und zeigt uns eine Welt, die so niemand verdient hat. Polanski setzt auf Nähe. Sowohl zu seiner Hauptfigur, die nie aus den Augen gelassen wird, also auch zum Zuschauer selbst. Wir gehen diesen furchtbaren Gang mit Szpilman zusammen. Wir sind keine Beobachter, wir gehen gemeinsam durch eine unvorstellbare Hölle. Immer mittendrin. Polanski machte aus Der Pianist, wie gewohnt, einen Film fernab jeglicher Hollywood-Moral oder Glorifizierung. Er zeigt uns beide Seiten, die der Juden natürlich ausführlicher, aber dennoch realistisch und in ihrem vollen Grauen. Völlig verdient konnte Roman Polanski 2004 den Oscar und die goldene Palme von Cannes für seine mehr als exzellente Regiearbeit entgegennehmen.
Der letzte Moment im Film ist es dann, der ein leichtes Aufatmen gewährt. Ein Moment, den man sich sehnlich gewünscht hat, aber vergebens suchen musste. Diese ständige Gefahr und der schreckliche Kampf ums Überleben. Es ist ein Moment der Hoffnung, fast ein Moment, der geborgene Wärme und Sicherheit ausstrahlt und jegliche Lasten von den Schultern nimmt. Diese Szene lässt nicht nur Szpilmans Gefühlen freien Lauf, sondern auch denen des Zuschauers. Was dieser Mensch für unglaubliche Qualen durchstehen musste, kann kein Außenstehender erfassen oder sich jemals erträumen. Nicht im Ansatz.
Fazit: Der Pianist ist einer der grausamsten, realistischen, wichtigsten und berührendsten Genrebeiträge überhaupt. Mit einem fantastischen Adrien Brody, der intensiven und eindringlichen Bildersprache, der wunderbaren Musik und Polanskis brillanter Inszenierung wird Der Pianist zu einem unvergesslich schmerzhaften und zugleich gefühlvollen Film.
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