Kritik: Stoker – Die Unschuld endet (USA/GB 2013)

Autor: Conrad Mildner

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“Just as a flower does not choose its color, we are not responsible for what we have come to be. Only once you realize this do you become free.”

Eines ist „Stoker“ auf jeden Fall, nämlich einer der schmerzhaftesten Kassen-Flops des Jahres. Bei einem für Hollywood-Verhältnisse mickrigen Budget von 12 Mio. Dollar hat der Film gerade einmal knapp 5 Mio. eingespielt. Die Quelle: Wikipedia, und laut IMDB sogar noch weniger. Können Sie sich noch an die Zeiten erinnern als Superstar Nicole Kidman noch nicht mal für 12 Mio. vor die Kamera getreten ist? Dieses Zeitalter scheint vorbei zu sein bzw. mag ihre Wertschätzung gegenüber Park Chan-wook groß genug sein, um „Stoker“ mit ihrem Auftritt auch mit weitaus weniger Gage zu adeln. Eines ist allerdings ganz sicher: Eine solch geringe Aufmerksamkeit hat dieser wundervolle Film nun wirklich nicht verdient, deshalb kommt jetzt schon, untypischerweise am Beginn der eigentlichen Kritik, der Aufruf am 9. Mai in die Lichtspielhäuser zu strömen.

India Stoker ist für viele ein seltsames Mädchen. Sie ist verschlossen, hat Angst vor Berührungen und hat die Gabe Dinge zu sehen und zu hören, die andere nicht wahrnehmen. Nach dem plötzlichen Tod ihres geliebten Vaters verkriecht sich India endgültig nur noch in sich selbst. Ihre psychisch labile Mutter (Nicole Kidman) ist ihr fremd, besonders nachdem sie den jüngeren Bruder des Vaters, von dem India vorher noch nie etwas gehört hat, einfach so in ihrem Haus wohnen lässt. Doch etwas stimmt mit Onkel Charlie (Matthew Goode) nicht. Bekannte Gesichter verschwinden plötzlich und die sexuellen Spannungen zwischen ihm und ihrer Mutter machen India besonders zu schaffen, vor allem weil sie sich selbst stärker zu ihm hingezogen fühlt als sie es wahr haben möchte.

Erst eine Dekade nach Park Chan-wooks internationalem Durchbruch mit dem Kultfilm „Oldboy“ gelingt es ihm nun seine erste nicht-südkoreanische Produktion in die Kinos zu bringen und wie wir Hollywood kennen, hatte Park in den letzten zehn Jahren wahrscheinlich unzählige Angebote und englischsprachige Drehbücher im Postkasten. Dennoch blieb er seinem Heimatkino treu, drehte den extravaganten Abschluss seiner Rachetrilogie „Lady Vengeance“ und legte mit den Festivalerfolgen „I’m a Cyborg, but that’s OK“ und „Durst“ direkt nach. Sein letztes Projekt war der Kurzfilm „Night Fishing“, der komplett mit einem iPhone gedreht wurde und auf der Berlinale den Goldenen Bären gewinnen konnte. Vielleicht brauchte Park all die Jahre, um sich zu beweisen, dass er keine Eintagsfliege ist. Zwar ist „Oldboy“ immer noch sein bekanntester Film, aber das Interesse hat die Filmwelt nicht an ihm verloren, ganz im Gegenteil. Dieses Jahr startet das umstrittene „Oldboy“-Remake von Spike Lee in den Kinos und so scheint es, dass Park Chan-wook noch einmal die Muskeln des Originals spielen lassen möchte, indem er mit „Stoker“ vorher noch seine eigene Duftmarke im amerikanischen Kino hinterlässt.

Die unfassbar ausschweifende Emile-Zola-Adaption „Durst“ spaltete vor vier Jahren Fans wie Kritiker. Das intellektuelle Vampir-Drama gewann den Großen Preis der Jury in Cannes. Umso erstaunlicher, dass „Stoker“ ein Park-Film sein soll, denn im Vergleich zum epischen „Durst“ wirkt sein neuer Film größtenteils wie ein bescheidenes Kammerspiel, eine Fingerübung par excellence. Natürlich sieht man hier keinem Anfänger beim Üben zu, sondern einem Meister beim Experimentieren, der sich gänzlich seiner caméra-stylo hingibt. „Stoker“ ist nämlich der erste Park-Film überhaupt, der auf einem Drehbuch eines anderen Autoren basiert. „Prison Break“- und „Resident Evil“-Star Wentworth Miller schrieb den Film zusammen mit Kollegin Erin Cressida Wilson, die u.a. das Drehbuch zum beliebten „Secretary“ schrieb und Miller in erster Linie mit ihrer Erfahrung zur Seite stand.

Nun hat man schon von mehreren Seiten eindeutige Kritik gegenüber dem Drehbuch lesen können, dass es z.B. vorhersehbar und schlicht „dünn“ sei. Nun gut, Millers Buch geht keine unglaublich neuen Wege. Es erzählt eine Thriller-Geschichte mit Horrorelementen und sucht direkte Anknüpfungspunkte beim Kino Alfred Hitchcocks, dem Urvater der caméra-stylo und da kommt Park Chan-wook wieder ins Spiel, denn irgendwas wird den erfahrenen Regisseur und Autor an Millers Drehbuch gefallen haben und sieht man „Stoker“ in seiner fertigen Fassung, wird das auch sehr, sehr deutlich.

Parks Kino war nie ein rein südkoreanisches, gar asiatisches. Allein die Rache-Trilogie ist sichtbar voller Einflüsse vom europäischen bis zum amerikanischen Film und da ist Hitchcock eine Inspiration, mit der Parks Kino seit jeher förmlich durchsetzt ist. Die britische Regie-Legende verfilmte nie ein eigenes Drehbuch und dennoch bekam jeder Film den unverwechselbaren Hitchcock-Touch, was u.a. zur Autorentheorie der caméra-stylo führte. Filmemacher_innen sollten, ungeachtet der Vorlage, die Kamera wie einen Stift führen – die Signatur per Kamera also.

In „Stoker“ führt Park den Stift als sei er direkt mit seiner Hand verwachsen. Ab der ersten Sekunde ist seine Autorenschaft sichtbar, was natürlich auch an der Verpflichtung seines Haus- und Hof-Kameramanns Chung Chung-hoon liegt. Ansonsten vertraut Park gänzlich auf seine Hollywood-Crew, die allesamt auf der Höhe ihrer Kunst arbeiten. Clint Mansells schauriger Score verschmilzt mit jedem Bild und bleibt stets bedrohlich unter der Oberfläche. Er spielt sich nicht nach vorne, sondern kommentiert den Film auf eine kaum wahrnehmbare Art, im Reich des Unterbewussten.

Im Gegensatz zu Mansell, der seinen üblichen Instrumentierungen weitestgehend treu bleibt, suchen die Kostüme von Kurt-and-Bart die Nähe zu Edith Head, Hitchcocks bevorzugter Kostümbildnerin. Das anachronistische Kostümdesign geht teilweise so weit, dass man daran zweifelt, dass der Film in der Gegenwart spielt, gäbe es nicht ab und zu eine Szene in Indias High School, wo die anderen Kids zeitgenössische Kleidung tragen. Offensichtlich sucht der Film einen historisch losgelösten Erzählraum bzw. versucht er seine Figuren in diesen Raum einzusperren. Das altehrwürdige Landhaus, in dem sich der Film die meiste Zeit aufhält, Onkel Charlies Cabrio und allen voran die Frisuren und Kleidung skizzieren diesen Raum unaufhörlich.

Natürlich könnte man die Hitchcock-Nähe als eine bloße Uneigenständigkeit bezeichnen, aber das würde einfach zu kurz greifen. Dafür sind die filmhistorischen Interferenzen zu sehr Teil des Films. Ja sie werden sogar innerhalb des Plots reflektiert. Wentworth Millers Liebe zu Hitchcocks „Im Schatten des Zweifel“ ist „Stoker“ in beinah jeder Szene eingeschrieben. Auch im Film von 1943 gibt es einen Onkel Charlie, der die Familie seiner gleichnamigen Nichte besucht und ein ebenso dunkles Geheimnis in sich trägt. Hitchcock verschmolz in seinem Film Heldin und Bösewicht zu einer untrennbaren Einheit, die erst am Ende mit aller Gewalt gebrochen wird. Millers Drehbuch geht seine Geschichte von einem anderen Winkel aus an. Nicht nur trägt Mia Wasikowska einen abweichenden Rollennamen. India und Charlie wollen schon phonetisch nicht zusammen passen. In „Im Schatten des Zweifels“ ist die junge Charlie zu Beginn völlig vernarrt in ihren Onkel und muss sich im Laufe des Films immer mehr von ihm distanzieren. „Stoker“ säumt das Pferd von hinten auf. India findet ihren Onkel am Anfang abstoßend und muss sich doch langsam eingestehen, dass sie mehr mit ihm gemeinsam hat als sie gedacht hätte, was Park in einem mitreißenden Piano-Duett der Beiden kulminieren lässt, Sex am Klavier sozusagen.

Passend für Park Chan-wooks Kino ist Indias darauffolgendes moralisches Dilemma, zwischen Abkehr und Aufbruch, sexuellem Erwachen und dem Drang zu Töten. „Stoker“ verquickt Motive des Vampirismus mit Charles Darwin, lässt Familienbande in Inzest ausarten, Hass in Liebe und umgekehrt. Angesicht dieses Nährboden scheint es nicht verwunderlich, dass Park daraus einen seiner besten Filme heran züchtet. Die Dialoge spielen eine sehr untergeordnete Rolle. Der Regisseur erzählt auf allen filmischen Ebenen, wobei besonders seine außerordentlichen Bild- und Tonmontagen im Gedächtnis bleiben. In einer Mordszene heftet sich die Kamera z.B. an das Ende eines Ledergürtels, der aus dem Hosenbund gezogen wird und Clint Mansells Musik plustert sich lautstark auf bis zur Explosion.

Parks Inszenierung ist nie verkopft. Sie trifft mitten in den Bauch, manchmal auch ins Herz, aber überwiegend bewegt sich der Koreaner auf dem handwerklichen Niveau seines Lehrmeisters und versucht sein Publikum mit ganzer Genrekraft zu zerfetzen. Die grandiose Besetzung rückt da schon fast in den Hintergrund. Besonders Matthew Goode sollte nach diesem Film endlich mehr Hauptrollen bekommen. Selten gab es, abseits von Hitchcocks Kino, solch einen charmanten Psychopathen und auch Nicole Kidman als egozentrisches Muttertier hätte ebenso locker in einem Film des Masters of Suspense auftauchen können.

Park Chan-wook hat seinen Hollywood-Einstieg jedenfalls künstlerisch erfolgreich gemeistert, auch weil er eine andere Richtung einschlägt als seine letzten Filme. „Stoker“ hat eine primitive Kraft, Teil eines Kinos der Sinne und Eingeweide. Umso trauriger, dass der Erfolg an den Kassen bisher ausblieb, dabei brauchen wir mehr Filme, die uns durch ihre schiere Schönheit die Augen austrocknen, weil wir vergessen zu blinzeln.

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