Eine Gastkritik von Michael Gasch – erstmals zu lesen am 20. Mai 2024 –
– gesehen im Rahmen der 77. Internationalen Filmfestspiele von Cannes –
“This is the Matrix. Everything comes from you. And everything is you.”
Während im Radio „Forever young, I want to be forever young“ besungen und in der Werbung Anti-Aging-Produkte oder Shampoo mit Verjüngungskur beworben wird, macht auch das Kino keinen Hehl daraus: Jung sein ist toll, alt sein ist… nicht toll, um es so trivial wie nur möglich auszudrücken. Das Älterwerden, kombiniert mit den Versuchen, diesen Prozess aufzuhalten, zieht sich dabei schon Jahrzehnte durch Literatur und Kino, man denke an The Rejuvenator (1988) oder Dorian – Pakt mit dem Teufel (2003) zurück. Coralie Fargeat (Revenge) zeigt mit The Substance nun, dass Mythos und der Teufel ausgedient haben und setzt das Thema in einen aktuellen Kontext, dem Zeitgeist entsprechend.
Lakonisch geht es um eine titelgebende Substanz, die nach der Injizierung eine jüngere Version des Patienten verspricht. Als äußerst intensiv erweist sich die chemische Mixtur des Films, oszillierend zwischen düsterer Stimmung und groteskem Humor, was bereits in der Eröffnungsszene deutlich wird. Ein geheimnisvoll schimmerndes Elixier dringt hierbei in die zarte Hülle eines frischen Eies, löst eine transformative Zellteilung aus und kreiert ein zweites Leben. In diesem Moment war das irgendwie noch nicht das Gelbe vom Ei. Genug mit Eierwitzen, schließlich handelt es sich bei The Substance um keine Komödie, sondern um das radikalste Werk der letzten Zeit, weil er so laut und unmittelbar wie nur möglich zu uns spricht. Und das alles, obgleich er in seiner eigenen kleinen Welt namens Hollywood spielt.
„Die Misserfolge schreibe in den Sand, die Erfolge meißle in Stein“ – so das alte Sprichwort – trifft auch auf die ins Alter gekommene Schauspiel-Ikone Elizabeth (Demi Moore) zu, wie es ihr Stern auf dem Hollywood Walk of Fame stolz verkündet. Nachdem ihre Schönheit sowie auch der Glanz ihres Sternes Jahr für Jahr verblassen, wird sie eines Tages mit der harten Realität konfrontiert, dass Hollywood sie nicht länger benötigt. Als ihr wenig später eine Chance geboten wird, dem Alterungsprozess ein Schnippchen zu schlagen und wieder Teil der Welt der Jungen und Schönen zu sein, nimmt sie die Gelegenheit an, ein riskantes Spiel zu spielen. Sie muss dafür lediglich ein paar einfache Handlungsanweisungen befolgen.
Mit einem Skalpell bewaffnet, schreitet die französische Regisseurin Fargeat an die Arbeit und seziert die Welt, in der wir uns befinden. Im Gewand radikaler und stilisierter Bilder schlummert die wortwörtliche Substanz, in der Themen wie Schönheit, Alterung, Generationskonflikte, Sexismus, eine Abrechnung mit Hollywood sowie die metaphysische Auflösung des Seins gleichermaßen kraftvoll aufeinanderprallen, wie es Atome tun. Immanent erscheint der zelluläre Kontext, wenn Substanz ins Gewebe gespritzt wird, Gene reagieren, Körper und Geist sich auflösen, transformieren und erneut auflösen. Gibt es überhaupt Grenzen zwischen beiden Grundpfeilern monistischer und dualistischer Überlegungen? Oder auch anders: Wo hören Gene auf und wo beginnt Menschlichkeit und Persona?
Symbolische Fragestellungen wie diese, die noch nie oder höchstens selten im Kino gestellt wurden, hat Fargeat zur Genüge – so wie auch die simpleren: Welchen Preis ist man bereit zu zahlen, um wieder jung und schön zu sein? Die Antwort erscheint als zu schlicht, wenn die Worte von Nicolas Winding Refn (The Neon Demon) auch acht Jahre nach der Veröffentlichung noch deutlich nachhallen: „Beauty isn’t everything, it’s the only thing“. Dass das alles sehr viel Angriffsfläche für Systemkritik bietet, muss nicht weiter ausgeführt werden, daran hat Fargeat allen Spaß. Mit voller Wucht brettert sie uns den radikalsten Humor und den spritzigsten Radikalismus ins Gesicht und vermittelt den Eindruck, als sei ihr ein Sprichwort aus der deutschen Sprache bestens vertraut „Wer schön sein will, muss leiden“.
The Substance vereint damit das Schöne, das Ästhetische, das, wonach die ganze Welt strebt, mit dem Schaurigen, dem Bluttriefenden, dem Stoff, der unter die Haut geht und in jedem Fall an den Nerven zehrt. Körperwelten werden dabei erforscht und erinnern in seiner morbiden Undenkbarkeit an Yorgos Lanthimos’ Poor Things. Während in diesem das Gehirn eines Babys in einen erwachsenen Körper gepflanzt wird, hat Fargeat nicht minder makabre Inhalte über die Verschmelzung von Körperlichkeit und Metaphysischem parat, was sonst nur bei David Cronenberg (Die Fliege) oder zuletzt Julia Ducournau (Titane) möglich war.
Was wiederum in der Medizin möglich ist, ging an Fargeat nicht vorbei. Ob ihr gesamter Film ein zynischer Kommentar auf CRISPR- und weitere Gentechnologiemöglichkeiten darstellt? Verbindungen zu Fachtermini wie „Prävention“ oder der mehrdeutige Begriff „Behandlung“ bieten sich in gleichem Maße an: Wie behandeln wir uns selbst und wie sehr behandeln wir uns? Wo liegen die Grenzen des (noch) Unvorstellbaren? Und wie viel Arbeit überlassen wir dem Zukunfts-Ich? All diese Fragen intellektueller Natur sind fließend und schaffen das intelligente Fundament des Films, der sich irgendwo zwischen Drama, Satire, Science-Fiction, Gesellschaftskritik und Horror bewegt. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ ließe sich wohl wie folgt an The Substance anlegen: Erst der geistreiche Unterbau, dann der Schocker-Spaß.
Während Rape-and-Revenge, Bodyhorror und Titane als programmatisches Beispiel für all das noch immer in die nischigere Sparte fallen, zeigt sich Fargeats neuester Film von anderer Seite. Viel zu wichtig erscheint sein Sujet. Viel zu nervenaufreibend und erschütternd sein schonungsloses Ende. Viel zu laut sein Schrei mitten ins Gesicht eines jeden Kinogängers. Viel zu eindringlich der ekelhafte wie aberwitzige Humor, der letzten Endes an die Worte von Joachim Ringelnatz erinnert: „Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt“. Obgleich in The Substance der Kragen und noch mehr platzt, ist es ein unvergleichliches Erlebnis. Mit dem packenden Revenge hat Coralie Fargeat bereits Aufsehen erregt. Nun etabliert sie sich als einer der hoffnungsvollsten Sterne im modernen Filmfirmament.
★★★★★★★★
The Substance startet am 19. September 2024 deutschlandweit im Kino.
Fantastische Review zu einem fantastischem Film! Du hast es toll beschrieben, der Humor ist wirklich das, wodurch sich der Film – und auch solche Lebenssituationen – aushalten lassen.