Kritik: The Substance (GB, USA, FR 2024)

Eine Gastkritik von Michael Gasch

– gesehen im Rahmen der 77. Internationalen Filmfestspiele von Cannes –

The Substance 2024 Demi Moore

This is the Matrix. Everything comes from you. And everything is you.

In der eröffnenden Szene durchdringt eine unangenehme Atmosphäre den Raum, als ein geheimnisvolles Elixier in die zarte Hülle eines frischen Eies injiziert wird. Mit einem unheilvollen Schimmer beginnt eine transformative Zellteilung, und aus einem einfachen Eigelb löst sich plötzlich ein zweites Leben. In diesem Moment war das irgendwie noch nicht das Gelbe vom Ei. Genug mit Eierwitzen, schließlich handelt es sich bei The Substance um keine Komödie, sondern um einen Horrorfilm, der die Grenzen des Zeigbaren und Erwarteten überschreitet.

Elizabeth (Demi Moore) hat es geschafft, wie ihr Stern auf dem Hollywood Walk of Fame stolz verkündet. Denn wie das Sprichwort sagt: “Die Misserfolge schreibe in den Sand, die Erfolge meißle in Stein.” Doch im Laufe der Zeit verblassen nicht nur Elizabeths Schönheit, sondern auch der Glanz ihres Sterns. Als ihr eine Chance geboten wird, dem Alterungsprozess ein Schnippchen zu schlagen, nimmt sie die Gelegenheit an, ein teuflisches Spiel zu spielen. Alles, was sie dafür tun muss, ist, ein paar simple Anweisungen zu befolgen.

Der Geist radikaler Filmproduktionen wird alle paar Jahre neu belebt: David Cronenberg (zuletzt Crimes of the Future) oder Julia Ducournau (zuletzt Titane) als exemplarische Schocker-Regisseure sei Dank. The Substance, der Cronenbergs Platz dieses Jahr auf den Filmfestspielen in Cannes strittig macht (auch er ist mit The Shrouds vertreten), wäre jedoch für niemanden vorhersehbar gewesen. Und eines kann ich versprechen: So sehr ihr in nächster Zeit vorgewarnt werdet, der Film wird euch übelst ins Mark treffen. Doch von vorn, denn dieses Genieprojekt steht nicht nur für die Radikalität seiner schockierenden Bilder, sondern auch für die wortwörtliche Substanz, in der Themen wie Schönheit, Alterung, Generationenkonflikte, eine Abrechnung mit Hollywood und die metaphysische Auflösung des Seins gleichermaßen kraftvoll aufeinanderprallen, wie es Atome tun.

In den Mikrokosmos eintauchend, lässt sich der gesamte Film im Kontext menschlicher Beschaffenheit lesen. Nicht nur bieten sich Ansätze in Richtung der Genetik, sondern auch philosophische Überlegungen. Geist und Materie als Grundpfeiler monistischer und dualistischer Überlegungen fließen ineinander, es resultiert eine zentrale Grundfrage: Wo hören Gene auf und wo beginnt Menschlichkeit und Persona? All diese substanziellen wie existenziellen Fragen kreieren den narrativen Rahmen, ohne den The Substance nicht einmal ansatzweise so hervorragend seinen betäubenden Überraschungseffekt entfalten würde. Erst der intelligente Unterbau, dann der Schock. Oder auch anders – erst die Arbeit, dann das Spiel!

The Substance Film 2024

Erneut wird der Typus Frau freigelegt, erneut verschmelzen selbstunsichere Persönlichkeitsstörungen mit dem weiblichen Schönheitswahn, um dem Alterungsprozess zuvorzukommen. Dass Nicolas Winding Refns Worte aus The Neon Demon nachhallen, kommt The Substance deutlich zugute: “Beauty isn’t everything, it’s the only thing”. Es ist nicht der einzige Film, der in The Substance referenziert wird – darunter befinden sich noch viel bedeutsamere Schreckensszenarien der Filmgeschichte. Von Horror immer noch keine Spur ist es eine grauenvolle Depiktion einer Frau, die von Hollywood bis zum Maximum durchgekaut und dann eines Tages ohne Vorwarnung ausgespuckt wird. Weg mit den alten Köpfen, her mit den neuen, um das System, bestehend aus Aufmerksamkeit und (körperlicher) Perfektion, am Laufen zu erhalten.

Dass dies ein Trauma nachziehen kann, muss nicht weiter ausgeführt werden. Doch dann gibt es für Elizabeth eines Tages eine medizinische Möglichkeit, mit der sich alle Probleme lösen lassen. Ob dies ein zynischer Kommentar auf CRISPR- und weitere Gentechnologiemöglichkeiten darstellt? Es ist nur eine von sehr vielen Fragen, die The Substance mal subtil stellt, mal mit voller Wucht dem Publikum ins Gesicht brettert. Zwar zögert Elizabeth im ersten Moment, doch auch sie unterliegt den Gesetzmäßigkeiten, womit ein weiteres Mal bewiesen wird: Wenn wir unseren tiefsten Punkt erreicht haben, sind wir offen für die größten Veränderungen.

Was fortan folgt, soll nicht verraten werden, denn damit würde man den großen filmischen Impact von The Substance deutlich unterminieren. Es sei lediglich erwähnt, dass die Verschmelzung von Körperlichkeit und Metaphysischem seit Cronenbergs Videodrome sowie Die Fliege nicht mehr so nervenaufreibend und erschütternd war wie in diesem Film. Dass jener Elevated Horror an der nervlichen Substanz zehrt, kann man sich denken. Was der Trash-Horror dann wiederum mit dem Publikum macht, ist eine ganz andere Geschichte. Dass man dieses Monstrum an Film nach der Erstsichtung gleichermaßen vergessen und direkt nochmal gucken möchte, ist wohl das schönste Kompliment, das man einem Horrorfilm machen kann. The Substance ist ein virtuoser Body-Horror-Streich, der die größten Genre-Meister fast schon zu Schülern degradiert. Mit dem packenden Revenge (2017) hat Coralie Fargeat bereits Aufsehen erregt. Nun etabliert sie sich als einer der hoffnungsvollsten Sterne im modernen Filmfirmament.

★★★★★★★★

Es steht noch nicht fest, wann The Substance in Deutschland in die Kinos kommt.

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