Dreißig Filme in sieben Tagen und währenddessen viel ermüdendes In-der-Schlange-Stehen, um noch einen Platz in den Vorstellungen der zahlreichen, heiß erwarteten Filme zu ergattern. Am Ende konnte ich jedoch nicht all meine Wunschfilme sehen und habe beispielsweise Park Chan-wooks The Handmaiden, Paul Verhoevens Elle und Olivier Assayas Personal Shopper verpasst. Das ist aber kein Grund traurig sein zu müssen. Denn erstens habe ich so weiterhin ein paar Filme, denen ich ungeduldig entgegenfiebern kann. Und zweitens durfte ich auch so einige wunderbare cineastische Schaffenswerke auf dem 41. Toronto International Film Festival sehen, darunter Damien Chazelles Musical-Meisterwerk La La Land oder Julia Ducournaus Raw, meine Horror-Entdeckung des Jahres. Da ich zeitbedingt leider nicht viele ausführliche Kritiken schreiben konnte, habe ich nun in den folgenden Kurzkritiken noch meine weiteren filmischen Erfahrungen vom Filmfest für Euch zusammengefasst.
Ausführliche Kritiken gab es bereits zu Adam Wingards Horror-Remake Blair Witch, zu Walter Hills genderqueerem Actionfilm (Re)Assignment, zum unsäglich erbärmlichen, selbsternannten Oscar-Favoriten Lion und zu meinen Lieblingen La La Land und Raw.
Hier aber nun weitere meiner Eindrücke:
Into the Inferno von Werner Herzog
“Men can only survive because of the atmosphere volcanos create.”
Warum Werner Herzog einer der einflussreichsten Regisseure seiner Zeit ist, muss ich wohl nicht mehr näher ausführen. Sowohl beim Spiel- als auch beim Dokumentarfilm bestimmt der deutsche Regiemeister seit Jahrzehnten grundlegend mit. Und auch seine neue Dokumentation Into the Inferno hat, dank Herzogs grandioser Recherchearbeit, wieder unglaublich viel zu bieten, sowohl inhaltlich als auch visuell. Herzog schickt uns auf eine Vulkan-Erkundung rund um die Erde, wie sie eindrucksvoller nicht hätte ausfallen können. U.a. auf Vanuato, Island, Indonesien und sogar in Nordkorea durfte Herzog drehen und die Geschichte von Vulkanen und deren Bedeutung für die verschiedensten Vöker analysieren, um die Vulkane dann sowohl von wissenschaftlicher als auch von religiöser Seite zu beleuchten und schließlich in einen globalen Kontext zu setzen. Für diese involvierte Recherche lieben wir Herzog-Dokus, und getoppt wird das alles dann nur noch von den unglaublichen Panorama- und Innenaufnahmen der Vulkanlandschaften.
Free Fire von Ben Wheatley
Ben Wheatley wird zwar von vielen als das neue Regiewunderkind Großbritanniens gesehen, ich konnte, abgesehen vom brillant-schwarzhumorigen Roadmovie Sightseers mit seinen Filmen bisher nur wenig bis gar nichts anfangen. Daran kann auch sein neuer Film, die Action-Komödie Free Fire, nichts ändern. Diese ist sicherlich sehenswert, aufgrunddessen wie es Wheatley versteht diesen 90-minütigen Actionfilm ausschließlich in einem Lagerhaus spielen zu lassen und damit für unglaublich kurzweilige Unterhaltung zu sorgen. Daran haben natürlich auch die offensichtlich gut aufgelegten Darsteller ihren Anteil, die sichtlich ihren Spaß während des Drehs hatten. Doch die Action und den Humor beiseite gelassen, ist Free Fire einfach nicht mehr als solide Unterhaltung und bietet auch keinen großen Widerschauwert wie zuletzt beispielsweise Mad Max: Fury Road.
Jackie von Pablo Larraín
Jackie war dann wohl der Film, von dem auf dem Festival zunächst keiner Großes erwartet hatte, der aber höchstwahrscheinlich, und das verdient, bei den kommenden Oscars in einigen Kategorien als Mitfavorit ins Rennen gehen wird. Hervorzuheben ist dabei insbesondere Natalie Portmans Verkörperung von Jackie Kennedy, mit der es sich Portman redlich verdient hat nächstes Jahr ihren zweiten Goldjungen mit nach Hause zu nehmen. Wie Portman in den Körper von Jackie Kennedy schlüpft ist wirklich so beachtenswert, dass man erst glaubt, wenn man es selbst gesehen hat. Und obwohl Pablo Larraíns neuer Film zwar ab und zu mit den üblichen Krankheiten von Biopics zu kämpfen hat, schafft er es trotzdem dem ganzen Genre zahlreiche erfrischende Aspekte abzugewinnen.
American Honey von Andrea Arnold
Die britische Regisseurin Andrea Arnold hat es innerhalb von nur wenigen Jahren mit ihrem Sozialdrama Fish Tank (2009) und der Brontë-Verfilmung Wuthering Heights (2011) geschafft, mich zu einem ihrer Fans zu machen. Dementsprechend hoch waren natürlich auch meine Erwartungen an ihren US-Debütfilm American Honey. Allerdings handelt es sich hierbei um meine bisher größte filmische Enttäuschung des Jahres. Andrea Arnold versteht es kaum, ihr Roadmovie über eine Gruppe jugendlicher Magazin-Verkäufer, die der Zivilisation den Rücken gekehrt haben, mal hier und mal dort leben und quer durch die USA reisen, 162 Minuten lang interessant genug zu gestalten. Das Schlimmste dabei: American Honey ist an Repetitivität nicht zu überbieten. Und obwohl die repetitiven Elemente, die Arnold auf allen Ebenen ihres Films ausspielt, ihren Sinn haben, gelingt es ihr zu keinem Augenblick diese auch ansprechend genug zu gestalten. Egal ob Soundtrack, Charakterhandlungen oder Naturaufnahmen, alles wirkt innerhalb von nur wenigen Minuten abgenutzt und altbacken. Vielleicht hätte sich Arnold vorher (noch)mal Spring Breakers anschauen sollen, der auf brillante Weise ein Generationsporträt innerhalb von nur knapp 90 Minuten zeichnet.
Certain Women von Kelly Reichardt
Ebenfalls hohe Erwartungen hatte ich an Certain Women, der ebenfalls von einer der talentiertesten gegenwärtigen Regisseurinnen, Kelly Reichardt (zuletzt Meek’s Cutoff und Night Moves), gedreht wurde. Von ihr wurden meine Erwartungen jedoch sogar übertroffen. In ihrer üblichen, minimalistischen Erzählweise folgt der Zuschauer in Certain Women den Schicksalen mehrerer Frauen, darunter eine junge und eine ältere Anwältin (Kristen Stewart und Laura Dern), eine Rancherin (Lily Gladstone) und eine Ehefrau (Michelle Williams), die alle versuchen mit ihrem tristen Alltag im weitläufigen US-Bundesstaat Montana zurechtzukommen. Die Themen Einsamkeit und Tristesse beschäftigt Kelly Reichardt nicht erst seit diesem Film, doch wie sie diese und andere alltägliche Lebensabläufe nun in Certain Women schildert, ist an Genialität nicht mehr zu überbieten. Angeführt von ihrem fantastischen Cast ist Kelly Reichardt ein wundervoll-poetisches, sehr nachdenklich machendes Gesellschaftsporträt des amerikanischen Nordwestens gelungen.
Nocturama von Bertrand Bonello
Nocturama war ebenfalls einer meiner heiß erwarteten Filme im Festivalprogramm. Einerseits, da mich Regisseur Bertrand Bonello zuletzt mit seinem Biopic Saint Laurent begeistert hat, und andererseits, da in Nocturama die aktuellen Auswirkungen der Terroranschläge von Paris auf die französische Gesellschaft thematisiert werden. Herausgekommen ist ein hypnotisierender Trip mehrerer Jugendlicher durch die Straßen von Paris, der schließlich in einem Kaufhaus ein unerwartet schockierendes Ende nimmt. Bonello selbst sagte, dass er mit diesem Film seinen Hass auf die aktuellen Missstände in Frankreich zum Ausdruck bringen wollte. Und das ist ihm beispiellos gelungen, denn Nocturama ist ein wichtiger Film, der für nichts und niemanden Partei ergreift und in schonungsloser Effektivität mit sämtlichen Misständen in der französischen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft abrechnet. Bonellos zynische Gesellschaftsabrechnung funktioniert dank des hervorragenden Drehbuchs und der meisterhaften Inszenierung zudem auf vielen Ebenen und bietet damit zahlreiche Deutungsmöglichkeiten und reichlich Diskussionspotential.
The Birth of a Nation von Nate Parker
Ein ärgerlicher Festival-Tiefpunkt war schließlich noch an meinem letzten Tag dieses Sklavereidrama, welches, wie auch schon Lion, bisher bekannte Erfolgsformeln von thematisch gleichgesinnten Oscar-Gewinnern wie 12 Years a Slave und Django Unchained als besonders revolutionäres Kino verkaufen möchte. Zwar startet der Film mit ein paar interessanten Ansätzen, doch recht schnell geht es nur noch darum, den Zuschauer möglichst schlimme Erfahrungen von Schwarzen hautnah miterleben zu lassen und mit diesen Erlebnissen schließlich die blutigen, sinnfreien letzten 30 Minuten zu rechtfertigen. The Birth of a Nation ist abstoßendes, manipulatives Kino der schlimmsten Sorte.
Manchester by the Sea von Kenneth Lonergan
Casey Affleck spielt in diesem sehenswerten Familiendrama Oscar-verdächtig den Familienvater Lee, der während eines Hausbrands seine zwei Töchter verliert. Als ihn daraufhin seine Frau (Michelle Williams) verlässt und sein Bruder an Krebs stirbt, ist die Adoption seines Neffens der letzte Ausweg, um nicht komplett mit seinem Leben abzuschließen. Kenneth Lonergan ist mit Manchester by the Sea ohne Frage ein intensives Schicksalsdrama gelungen, welches sich mit der interessanten Frage auseinandersetzt, wie es mit uns weitergeht, wenn uns alle, die wir lieben, verlassen haben. Lonergans außerordentliche Regie und die tollen Schauspieler lassen uns tief in die Gefühlswelten der Charaktere eintauchen, doch lässt es der Film nicht bleiben, des Öfteren viel zu dick aufzutragen. Ebenfalls wird die Leidens- und Wiederauferstehungsgeschichte von Lee in verwirrenden Rück- und Vorausblenden erzählt, was nicht immer der Dramaturgie zuträglich ist und die Geschichte nur unnötig in die Länge zieht. Damit verliert der an sich großartige Film leider einiges an Qualität.
Weitere ausführliche Kritiken werdet ihr von mir die kommenden Tage noch zu J.A. Bayonas unheimlich bewegendem Fantasy-Drama Sieben Minuten nach Mitternacht, zu Denis Villeneuves Sci-Fi-Parabel Arrival, zu Ewan McGregors Regiedebüt Amerikanisches Idyll und zu Antoine Fuquas Western-Remake Die glorreichen Sieben lesen. Zur neuen Arbeit Voyage of Time von Terrence Malick, in der tatsächlich alle nervigen Aspekte, die Malicks vergangene Filme aufwiesen, zu einer unerträglich hohlen Dokumentation verwurstet wurden, habe ich keine Lust weitere Worte zu verlieren. Gleiches gilt für das uninspirierte Boxer-Drama Bleed for this nach Schema F und den gleichermaßen nichtssagenden, koreanischen Korruptionskrimi Asura: City of Madness. Ebensfalls keine größere Erwähnung verdient haben Kim Jee-woons in allen Belangen durchschnittlicher Spy-Thriller The Age of Shadows, Eleanor Coppolas zwar sehr unterhaltsames, aber belangloses Cannes-Paris-Roadmovie Paris can wait, Marc Forsters hervorragend inszeniertes, aber inhaltlich plattes Blindendrama All I See Is You, sowie auch das nervige Gerichtsdrama Denial über den Holocaust-Verleugner David Irving. Eine Sondererwähnung verdient noch Nocturnal Animals, auf den ich mich sehr gefreut hatte, dessen famose Inszenierung und tolle Schauspieler allerdings einem unsäglichen Drehbuch begraben werden. Am Ende blieb mir nur die Frage, was sich Regisseur Tom Ford bei seiner lächerlichen Thriller-Story gedacht hat.