Ohne großes Blabla vorweg: Dieses Kinojahr war, wie schon 2017, für meinen Geschmack herausragend vielseitig und hat gleich einige wahre cineastische Schmankerl mit sich gebracht. Und das, obwohl Hollywoods Blockbustermaschinerie keinen Deut an Innovation im Vergleich zu den Vorjahren hinzugewonnen hat. Ausnahmen bestätigen selbstverständlich die Regel. Dies gilt auch für den Streaming-Giganten Netflix, bei dem die Fallhöhe zwischen zumeist mittelmäßigen bis unerträglichen Filmchen und dazwischen magischen Lichtblicken wohl am größten ist. Größtenteils habe ich meine Highlights des Jahres weit fernab der sich selbst bis zur Unverträglichkeit unüberhörbar und unübersehbar als bestes Irgendetwas (der beste Marvel-Film seit… überhaupt und so) vermarktenden Rohrkrepierer gefunden. Das Kino lebt nach wie vor, auch wenn die Suche nach den besonderen Filmen sich nicht immer einfach gestaltet. Daher bleibt, wie schon bei meinem letztjährigen Rückblick, nur noch zu hoffen, dass auch das massentaugliche Kino bald wieder mehr Mut und Originalität an den Tag legt, als in den jüngeren Vergangenheit.
Lobende Erwähnungen, immer eine Sichtung wert:
Climax (Gaspar Noë), Lady Bird (Greta Gerwig), Thelma (Joachim Trier), BlackKklansman (Spike Lee), Wonderstruck (Todd Haynes), Revenge (Coralie Fargeat), A Star Is Born (Bradley Cooper), Styx (Wolfgang Fischer), Vollblüter (Cory Finley), Le Jeu – Nichts zu verbergen (Fred Cavayé), Cam (Daniel Goldhaber), Florida Project (Sean Baker), Feinde – Hostiles (Scott Cooper), Leave No Trace (Debra Granik), Love, Simon (Greg Berlanti)
Herausragende Blockbuster:
Greatest Showman (Michael Gracey) & Mission: Impossible – Fallout (Christopher McQuarrie)
Die hörenswertesten Filmscores des Jahres:
Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (Carter Burwell), The Rider (Nathan Halpern), Der seidene Faden (Jonny Greenwood), Aufbruch zum Mond (Justin Hurwitz)
Die erinnerungswürdigsten Filmsongs:
Shallow und weitere Songs (A Star Is Born), A Million Dreams und weitere Songs (Greatest Showman), Mystery of Love und Visions of Gideon (Call Me by Your Name), Suspirium (Suspiria)
Die schlimmsten Filme des Jahres:
Voyage of Time (Terence Malick), Mandy (Panos Cosmatos), How It Ends (David M. Rosenthal), Mary Poppins’ Rückkehr (Rob Marshall), Fifty Shades of Grey 3 – Befreite Lust (James Foley), The Night Comes For Us (Timo Tjahjanto), Das Leben ist ein Fest (Olivier Nakache und Eric Toledano), Das Zeiträtsel (Ava DuVernay), Mute (Duncan Jones) und Wolfsnächte (Jeremy Saulnier)
Die größten Enttäuschungen:
It Comes At Night (Trey Edward Shults), Hereditary – Das Vermächtnis (Ari Aster), Ready Player One (Steven Spielberg), Die dunkelste Stunde (Joe Wright), A Quiet Place (John Krasinski), Aufbruch zum Mond (Damien Chazelle) und Shape of Water – Das Flüstern des Wassers (Guillermo del Toro)
Bewusst ignoriert:
u.a. Deadpool 2 (David Leitch), Pacific Rim 2: Uprising (Steven S. Knight), Klassentreffen 1.0 (Til Schweiger), Christopher Robin (Marc Forster), Werk ohne Autor (Florian Henckel von Donnersmarck), Papst Franziskus (Wim Wenders) und 100 Dinge (Florian David Fitz)
2019 – meine meisterwarteten Filme:
Once Upon A Time… in Hollywood (Quentin Tarantino), The Woman in the Window (Joe Wright), The Avenging Silence (Nicolas Winding Refn), Idol’s Eye (Olivier Assayas), Ad Astra (James Gray), High Life (Claire Denis), The Death and Life of John F. Donovan (Xavier Dolan), Blessed Virgin (Paul Verhoeven), The Nightingale (Jennifer Kent), The Irishman (Martin Scorsese), Meeting Gorbachev (Werner Herzog), Eight Grade (Bo Burnham) und Beach Bum (Harmony Korine)
Und nun meine Top 10 des Jahres 2018:
Platz 10: Quakquak und die Nichtmenschen (arte: 17. & 24. September)
von Bruno Dumont, mit Alan Delhaye und Bernard Pruvost
Kuhfladenangriffe aus dem Himmel… eine aus den Fugen geratene Welt… die Fortsetzung der Provinz-Krimi-Coming-Of-Age-Komödie Kindkind (2014) ist für mich erneut eine der unkonventionellsten filmischen Erfahrungen des Jahres. Wie es Bruno Dumont (zuletzt: Jeannette: The Childhood of Joan of Arc) in Quakquak und die Nichtmenschen erneut gelingt, seine Zuschauer über die volle Laufzeit ein Dauergrinsen ins Gesicht zu zaubern und sich über die Idiotien der Gesellschaft in Form von einer Alieninvasion auszulassen, ist einfach nur hinreisend verrückt und originär. [Die passendste Kritik.]
Platz 9: Private Life (Netflix: 05. Oktober)
von Tamara Jenkins, mit Kathryn Hahn und Paul Giamatti
Einer der Netflix-Highlights des Jahres: Private Life behandelt auf eine ebenso witzige wie sensible Art und Weise die Beziehung eines Paares, welches einfach nur ein Baby bekommen möchte. Paul Giamatti und Kathryn Hahn sind dabei in ihren Rollen unglaublich authentisch und transportieren die Auseinandersetzung mit einem komplexen Gesellschaftsthema gekonnt vor der Kamera.
Platz 8: Der seidene Faden (Kinostart: 01. Februar)
von Paul Thomas Anderson, mit Daniel Day-Lewis und Vicky Krieps
Der seidene Faden ist ein Muss für jeden, der unter dem Deckmantel der “wahren Liebe” in das Leben eines Narzissten verwickelt wurde. Ein Manipulator (mal wieder famos gespielt: Daniel Day-Lewis), der seine Opfer von den Füßen hebt, sie einatmet und ausspuckt, wenn sie nicht mehr seinen Ansprüchen genügen. Die Essensszene zwischen Daniel Day Lewis und Vicky Krieps ist ein cineastisches Meisterwerk und der Höhepunkt der Darstellung eines Monsters, das nicht dazu in der Lage ist, über seine eigenen Bedürfnisse hinauszusehen. Darüber hinaus hat Paul Thomas Anderson noch einiges mehr mit seinem perfekt inszenierten Liebesdrama zu erzählen, auch wenn der Film am Ende für mich trotzdem nicht ganz an die großen Werke des Regisseurs (There Will Be Blood) heranreicht.
Platz 7: The Rider (Kinostart: 21. Juni)
von Chloé Zhao, mit Brady Jandreau und Tim Jandreau
Der Grund des Jahres dafür, das amerikanische Independent-Kino zu lieben. The Rider ist ein zutiefst weises und bewegendes Neo-Western-Drama über den Neuanfang eines jungen Rodeoreiters, der nach einem schwerwiegenden Unfall glaubt seine Lebensbestimmung verloren zu haben. Regisseurin Chloé Zhao wagt sich in diesem Drama nach wahren Begebenheiten Tief in die Seele des ländlichen Amerikas. The Rider ist ein einmalig, herzzerreißend und in elegische, wunderschöne Kameraaufnahmen gehüllt.
Platz 6: Shirkers (Netflix: 26. Oktober)
von Sandi Tan
Regisseurin Sandi Tan erzählt in Shirkers vom Gefühl, wenn dir etwas weggenommen wird, in das du jahrelang intensiv Zeit, Geld und vor allem Anstrengung und Leidenschaft investiert hast. Sandi Tan verknüpft gekonnt die Erinnerungen an den Dreh ihres Films Shirkers im Jahr 1992, den sie damals in Singapur mit der Unterstützung eines Regisseurs gedreht hat, der dann jedoch mit dem Filmmaterial spurlos verschwunden ist. 20 Jahre später kam Sandi Tan schließlich doch wieder in den Besitz ihres unfertigen Films und mit dieser Dokumentation verarbeitete sind nun die diversen Emotionen und Gefühle, welche mit dem Wiederauftauchen des verschwunden geglaubten Filmmaterials auf sie eingeschlagen sind. Zwischen Vergangenem und Gegenwart hat die in Singapur Gebürtige eine träumerische Liebeserklärung an die Kraft und die Möglichkeiten des Kinos geschaffen und gleichzeitig doch noch ihren Film fertig gestellt, der uns das 90er Jahre Singapur erfahrbar macht. Ein kleiner Geniestreich!
Platz 5: First Reformed (amazon Prime)
von Paul Schrader, mit Ethan Hawke und Amanda Seyfried
Paul Schrader spricht ganz gezielt von globalen Ängsten und artikuliert First Reformed auch als psychologischen Querschnitt durch das Gespinst der Angst einer Gesellschaft, die irreversiblen Katastrophen entgegensteuert und dabei keine Mittel mehr findet, sich selbst lebendig zu erhalten. Terrorismus, Lobbyismus, Umweltverschmutzung. Sind wir die Geister, die Gottes Schöpfung rief? In seiner strengen Formalität erinnert Paul Schraders Ägide an die große Namen des Weltkinos: Ingmar Bergman und Robert Bresson sind unzweifelhafte Vorbilder, denen First Reformed Tribut zollt, ohne dabei aber sich seiner eigenen Identität zu entledigen. [Kritik & Trailer]
Platz 4: Augenblicke: Gesichter einer Reise (Kinostart: 31. Mai)
von/ mit Agnès Varda und JR
Wie aus nur einer guten Idee ein brillanter Film entstehen kann? Agnès Varda, mittlerweile die Großmutter der Nouvelle Vague, nimmt uns in dieser Dokumentation auf einen humorvollen Roadtrip in abgelegene Winkel Frankreichs, mit zu von der Gesellschaft vergessenen Menschen – darunter Minenarbeiter, Farmer, Hafenarbeiter und Rentner, denen sonst wohl niemals jemand Beachtung geschenkt hätte – und führt uns damit auf minimalistische Art und Weise, mit dem französischen Streetart-Künstler JR an ihrer Seite, die unbändige Kraft der Kreativität vor Augen. „Das Leben ist, wie man die Dinge sieht.“ Augenblicke: Gesichter einer Reise ist wahrlich eine herausragende, zutiefst menschliche, aus der Spontaneität zweier Künstler heraus entstandene Dokumentation und eine unvergessliche Liebeserklärung, ja sogar ein Denkmal, an die Fotografie.
Platz 3: Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (Kinostart: 25. Januar)
von Martin McDonagh, mit Frances McDormand und Sam Rockwell
Martin McDonaghs (Brügge sehen… und sterben?) neuester Streich ist erneut zutiefst menschliches Charakterkino über die Wege der Trauer, der Gewalt, des Zorns, der Moral und ihrer Umkehrung. Eine von Menschenkenntnis und Lebensweisheit bis zum Rand gefüllte Komödien-Tragödie, scharfzüngig geschrieben, exquisit gespielt, berührend, urkomisch, bitter, zynisch, liebenswert, hässlich, jenseits von einfachen Antworten. [Kritik & Trailer]
Platz 2: Call Me By Your Name (Kinostart: 01. März)
von Luca Guadagnino, mit Timothée Chalamet und Armie Hammer
Nach diesem Film werden Pfirsiche nicht mehr schmecken, wie sie vorher geschmeckt haben. Was macht Call Me by Your Name zu einem der beeindruckendsten Einträge in das Kinojahr 2018? Seine schauspielerischen Leistungen? Natürlich. Seine elegante Inszenierung? Sicherlich. Sein vollkommen unkomplizierter Umgang mit Homosexualität? Auch das. Und noch vieles mehr. Wer Problemkino sucht, möge Abstand nehmen, denn Luca Guadagnino liefert hier wertfreies, emotionales, beflügelndes Gefühlskino ab. Ein moderner Klassiker.
Platz 1: Roma (Netflix: 14. Dezember)
von Alfonso Cuarón, mit Yalitza Aparicio und Marina de Tavira
Und noch ein Sofort-Klassiker… und etwas Besseres, als die Vermarktung über die Streaming-Plattform Netflix, hätte Alfonso Cuaróns Familiendrama wohl nicht passieren können. Roma ist in jeder Einstellung und in jedem Detail ein zeitloses, modernes Meisterwerk, welches das Mexiko der 70er Jahre spektakulär wiederaufleben lässt. Mehr dazu in meiner Kritik.
HIER geht es zu Leonhards und Pascals Lieblingsfilmen des Jahres 2018. Weitere Listen folgen bis Ende des Jahres täglich.