– gesehen im Rahmen der 77. Internationalen Filmfestspiele von Cannes, Kritik erstmals zu lesen am 18. Mai 2024 –
I feel great. I just worry sometimes.
Vor etwas mehr als einem halben Jahr entzückte Yorgos Lanthimos’ visionärer Film Poor Things bei seiner Weltpremiere in Venedig das Publikum – auch mein absolutes Filmhighlight des letzten Jahres! Seitdem hat die außergewöhnliche Emanzipationskomödie eine wohlverdiente Flut an prestigeträchtigen Preisen eingeheimst, darunter vier Oscars. Besonders gefeiert wurde Emma Stone, die nach La La Land bereits das zweite Mal als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. Ein Grund hierfür dürfte auch sein, dass sie, wie sie bei der Cannes-Pressekonferenz zu Kinds of Kindness verriet – bisher keinem anderen Regisseur so viel Vertrauen schenken konnte wie dem eigenwilligen griechischen Regisseur. Dies ist bereits ihre dritte Zusammenarbeit seit The Favourite – Intrigen und Irrsinn (2018). Doch nun die spannendste Frage: Wo ordnet sich nun Kinds of Kindness qualitativ im beeindruckenden Schaffen dieses dynamischen Duos ein?
Ich sage es mal so… Yorgos Lanthimos ist aktuell der unangefochtene Meister der “Was zum Henker?!”-Filme. Doch während The Favourite und Poor Things zuletzt noch eine gewisse Mainstreamtauglichkeit bewahrten, zieht Kinds of Kindness die Schrauben der Absonderlichkeit bis zum Anschlag an und treibt sie ins maximal Abstoßende. Auch in Sachen Laufzeit überspannt Lanthimos den Bogen des Zumutbaren – doch diese ausgedehnte Spielzeit ist dringend nötig für seine tragödienhafte, dreiteilige Erzählung:
In der ersten Erzählung dreht sich alles um einen Mann (Jesse Plemons), der sein ganzes Leben nach den Vorstellungen seines Freundes (Willem Dafoe) ausgerichtet hat. Doch als dieser ihm die Freundschaft kündigt, steht er vor der Herausforderung, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die zweite Episode schildert die Geschichte eines Polizisten (ebenfalls Jesse Plemons), der dem Wahnsinn verfällt, als unerwartet seine bei einer Meeresexpedition verschollene Frau (Emma Stone) völlig verändert zurückgekehrt. Im dritten Teil begibt sich eine Frau (nochmals Emma Stone) auf die Suche nach einer Person mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die dazu bestimmt sein soll, ein bedeutender spiritueller Führer zu werden und sogar die Toten wiederzuerwecken.
Wie bei einem Dreigänge-Menü hängt auch Kinds of Kindness vom Geschmack jeder einzelnen Episode ab. Während die zweite und dritte Geschichte wie ein kulinarisches Festmahl sind, fühlt sich die erste eher wie ein lauwarmer Vorspeisenteller an – ehrlich gesagt, hätte der Film ohne sie vielleicht besser geschmeckt. Vielleicht lag es aber auch an meiner ersten Cannes-Müdigkeitserscheinung (Tag 4), denn während der ersten Episode hat mich die Müdigkeit gnadenlos übermannt.
Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass Yorgos Lanthimos uns konsequent Charaktere präsentiert, mit denen sich das Publikum kaum bis gar nicht identifizieren kann. Ähnlich wie zuletzt in The Killing of a Sacred Deer (2017, der ebenfalls interessanterweise in Cannes Weltpremiere feierte) stellt er ein Panoptikum menschlichen Elends zur Schau. Doch dieses Mal konzentriert sich Lanthimos auf den Kontrollwahn und die Abhängigkeiten in modernen Beziehungen. Besonders deutlich wird dies in der zweiten Episode, in der Jesse Plemons und Emma Stone einen psychischen Terror inszenieren, der kaum bis nur schwer zu auszuhalten ist.
Lanthimos kehrt dabei mit seinem rätselhaften, düsteren Stil zurück, der konventionelle Sehgewohnheiten auf den Kopf stellt und ihn zum wichtigsten Regisseur der Greek Weird Wave (insbesondere mit Dogtooth) machten. Als die griechische Wirtschaft in den 2000er Jahren in eine Abwärtsspirale geriet, fand Yorgos Lanthimos dafür mutige, ausdrucksstarke Bilder. Zwanzig Jahre später widmet er sich nun dem “American decline” aus soziopolitischer Perspektive und sucht nach Bildern, die die USA als einen hoffnungslosen Ort darstellen. Sämtliche problematischen Beziehungsgeflechte in Kinds of Kindness spiegeln das soziale Chaos wider, das heutzutage in den Vereinigten Staaten herrscht. Freundlichkeiten sind eine seltene Erscheinung geworden, außer vielleicht (ohne zu viel zu verraten) in einem letzten Paradies (?), welches Willem Dafoe und seine Gefolgschaft im dritten Akt geschaffen haben.
Lanthimos lässt sein Publikum größtenteils allein und verlassen zurück, um über die Verbindungen innerhalb und über die drei Episoden hinweg nachzudenken. Nur die wirklich schwarzhumorigen Szenen, bei denen die Zuschauer vor Lachen grölten oder die Luft anhielten – manchmal sogar beides gleichzeitig – vor lauter Erstaunen, durchbrachen diese Einsamkeit. Letztendlich ist Kinds of Kindness auch ein Film über den Glauben in der modernen Zeit. Und wer könnte diesen abschließend noch so sehr ab adsurdum führen wie Lanthimos? Kinds of Kindness ist wirklich die eigenartigste Erstsichtung eines Films, die ich seit David Lynchs Mulholland Drive erlebt habe – und dieser zählt heute zu meinen absoluten Lieblingsfilmen. Ob Kinds of Kindness ebenso stark wachsen wird? Das wird die Zeit zeigen.
Kinostart: 4. Juli 2024
Regie und Drehbuch: Yorgos Lanthimos
=> weitere Filme des Regisseurs
Darsteller: u.a. mit Emma Stonne, Jesse Plemons, Willem Dafoe, Margaret Qualley und Hong Chau
Filmmusik: Jerskin Fendrix
FSK-Freigabe: ab 12
Verleih Kino: Walt Disney Studios Motion Pictures
Laufzeit: 2 St. 44 Min.
★★★★★★☆☆