Eine Gastkritik von Michael Gasch
– gesehen im Rahmen der 76. Internationalen Filmfestspiele von Cannes –
You got the best job in the world.
97 Filmproduktionen aus aller Welt zieren die diesjährigen Filmfestspiele in Cannes. Dementgegen steht das einzige Serienformat The Idol aus der Serienschmiede HBO (Game of Thrones, Breaking Bad, Mad Men, etcetera). Mit Lily Rose-Depp und der modernen Pop-Ikone The Weeknd in den Hauptrollen sowie der nachgesagten sexuellen Freizügigkeit erwarten viele die Serie 2023. Die Frage, die jedoch im Raum steht, ist eindeutig: Passt diese Produktion hier überhaupt hinein? Das Urteil könnte nicht eindeutiger ausfallen, auch wenn wir im Rahmen des Filmfestivals nur die ersten beiden Folgen zu Gesicht bekommen haben: Bei all den mehr oder weniger künstlerisch hochwertigen Produktionen ist The Idol in Cannes sowie bei HBO definitiv fehl am Platz.
Zu typisch glanzvoll, zu typisch prüde, zu typisch fällt auch das Identifikationspotential für sämtliche Künstler auf der Welt aus. Man beachte, dass die repetitive Nutzung des Adjektivs Absicht ist. Geht man mit The Idol ganz streng ins Gericht, ist es vermutlich nicht übertrieben zu sagen, dass diese Serie nicht einmal zu HBO passt. Zu meisterhaft inszeniert (The House of the Dragon), zu intelligent (Succession) fallen hier andere aktuelle Produktionen aus. In Hinblick auf die restlichen Folgen muss da noch einiges passieren, damit The Idol die Kurve bekommt.
Das mag in erster Linie an der Besetzung liegen, die in diesen Tagen nicht glanzvoller ausfallen könnte. Dass der Glanz nicht schauspielerischer Natur ist, sollte jedoch jedem klar sein, hat die Tochter des Fluch der Karibik-Stars bisher kaum Spitzenleistungen abgeliefert. Die Frage, ob The Weeknd ein Schauspieler ist, oder zumindest schauspielerisches Talent hat, ist zudem auch diskutabel. The Idol verlässt sich in erster Linie zu sehr auf den oberflächlichen Glanz medialer Natur und weiß wenig überraschend nicht viel mit diesen doch eher schablonenhaften Figuren anzufangen, obgleich Serienerschaffer Sam Levinson das Spiel mit seinen Figuren eigentlich beherrscht (ich empfehle in dieser Hinsicht den unterschätzten Malcolm and Mary).
Vielleicht steckt in der Story über eine leidende Pop-Künstlerin aber auch einfach nicht mehr so viel Potential, wie es noch vor zig Jahren der Fall war. Und sowieso darf man fragen: Ist es nicht eh immer die identische Geschichte in einer anderen Variation? Aufgrund dessen ist es schon fast logisch, dass Depps Figur wie ein Stereotyp in Reinform wirkt. Dass es um viel Sex gehen wird, macht den Braten auch nicht fett. Ein bisschen Nacktheit hier, ein bisschen Selbstbefriedigung dort sowie ein vor Klischees triefender Gangster-Subplot – das lässt den Zuschauer heutzutage schon recht kalt, zumal The Idol auch mit der schrillen Ästhetik wenig umzugehen weiß.
Auf sämtlichen Ebenen darf sich The Idol von einem Konzertfilm wie beispielsweise A Star Is Born noch einiges abschauen. Dieser beispielsweise begeisterte durch himmlische Songs, welche speziell für den Film komponiert wurden. Aber auch durch Lady Gagas und Bradley Coopers berauschende Darstellungen. Oder wie wäre es mit der überbordenden Ästhetik von Baz Luhrmanns Elvis (der übrigens vergangenes Jahr in Cannes Weltpremiere feierte). All das, was gute Musikfilme der letzten Jahre ausmachte, fehlt The Idol bisher komplett. Vielmehr weiß sich Sam Levinsons neueste Produktion in Sachen Sex Sells und biederem Storytelling fast schon auf einem Niveau mit Fifty Shades of Grey einzuordnen. Er könnte es eigentlich besser, was er auch mit Euphoria (ebenfalls HBO) bewiesen hat.
Die Prognose, dass diese HBO-Neuproduktion wie eine Bombe einschlagen wird, erscheint daher nicht realistisch. Vermutlich wird es eher ganz typisch so kommen, dass The Idol zum Release etwas Hype in den sozialen Medien generieren wird, doch was hat das schon zu bedeuten, wenn eine Woche später niemand mehr über die Serie sprechen wird? Sollte die Serie die Kurve nicht bekommen, lässt sich zumindest bei der musikalischen Pop-Ikone sagen: “Schuster, bleib bei deinem Leisten!”
The Idol wird in Deutschland ab 5. Juni 2023 exklusiv bei WOW (Sky) zu sehen sein.