I wanted to be a world changer and I’ve ended up a passive intellectual who can’t fuck.
Wenn sich Anne Franks Familie auf deinem Dachboden verstecken würde und die Nazis an deine Tür schlagen und nach ihr fragen, wärst du laut Immanuel Kants berühmtem kategorischen Imperativ verpflichtet die Wahrheit zu sagen. Unfassbar, aber ein allgemein gültiges moralisches Gesetz kann nur funktionieren, wenn es ausnahmslos eingehalten wird, auch wenn es Personen begünstigt, die nicht richtig handeln. Das ist eine der analytischen Beobachtungen, die Abe Lucas (Joaquin Phoenix), seines Zeichens resignierter Utopist und trunksüchtiger Professor der Philosophie am Newport-College, seinen Studierenden schildert. Aber eine Ethik, die den Nazis hilft, kann doch nicht richtig sein, oder? Insoweit sind sich Woody Allen, seine Hauptfigur und wohl (hoffentlich) auch ein Großteil des Publikums einig. Doch was soll ich dann tun?
Der frisch nach Newport gezogene Lucas ist nicht nur ein Kenner der Theorie. Er ist auch ein Mann der Tat, der jahrelang in Krisengebieten humanitäre Hilfe geleistet hat und dafür viel Leid einstecken musste. Weder die theoretische Seite, noch sein praktisches Handeln haben ihm Frieden gebracht. Die Übel sind weiterhin in der Welt. Jetzt hat er sich dem Alkohol zugewandt und kriegt schon seit einem Jahr keinen mehr hoch. Abe erregt schnell die Aufmerksamkeit seiner Studentin Jill (Emma Stone), die sich vom chaotischen und leidenden Genie angezogen fühlt. Ebenso seine Kollegin Rita (Parker Posey), die mit ihm sogar sofort auswandern würde. An attraktiven Angeboten mangelt es dem verzweifelten Professor zumindest nicht. Die Säfte beginnen allerdings erst wieder zu fließen, als Abe und Jill im Diner der Erzählung einer Mutter lauschen, der droht, wegen eines parteiischen Richters, das Sorgerecht für ihre Kinder an ihren Exmann zu verlieren. Die Vorstellung nicht nur der Mutter, sondern auch zahlreicher, folgender Opfer dieses ruchlosen Richters zu helfen, indem er den Schurken persönlich ermordet, beginnt Abes Geist zu okkupieren und verschafft dem vormals impotenten Trinker zu einer neuen Perspektive.
Woody Allen lässt uns tief in die Seele von Lucas starren. Er und Jill fungieren gleichfalls als Erzähler_innen, was zugegeben Irrational Man streckenweise zu einem zumindest filmisch uninteressanten Hörstück degeneriert. Abes dafür ausführliche und durchaus nachvollziehbare Gedanken aus dem Off lassen auch zunehmend die Mordlust am Richter auf Publikumsseite steigen. Allen macht uns auf illustre Art zum Komplizen eines angeblich gerechten Mordes; ein beliebtes Motiv im Kino, dem Hitchcock schon pervers verfallen war. Auch für Woody Allen ist es seit Verbrechen und andere Kleinigkeiten ein wiederkehrendes Thema, welches nicht nur die Frage nach dem perfekten Mord stellt, sondern auch nach dessen Konsequenzen. In Match Point mussten sich diese theoretischen Fragen in der überkomplexen Wirklichkeit behaupten. Die Folge waren Unvorhersehbarkeit, Zufälle und Glück.
Irrational Man blickt ähnlich herab auf seine Figuren wie die zwei anderen thematisch nahen Filme. Solche Versuchsanordnungen bedienen zwar die Freude am Gedankenexperiment, neigen aber dafür durchaus zu kühler Distanz. Dem Film gelingt es dagegen sehr gut diese Kälte aufzulösen, was nicht nur an den wieder einmal herrlich sonnendurchfluteten Bildern Darius Khondjis oder dem süffigen Drehbuch liegt, sondern in erster Linie der fantastischen Besetzung zu verdanken ist. Ein ungewohnt leichtfüßiger Joaquin Phoenix gibt Woody Allens typische, unter Reader’s-Digest-Niveau verknappte Kulturreferenzen von Dostojewski bis Heidegger glaubhaft wieder. Phoenix nimmt man den Dozenten und Trinker genauso ab wie den Frauenschwarm und Mörder. In der Beziehung zu Emma Stone beginnt der Film erst wirklich zu strahlen. In Allens letztjährigem Film Magic in The Moonlight verliebte sich Stone noch auf völlig unerklärliche Weise in den mehrere Jahrzehnte älteren Colin Firth. Zwischen den beiden knisterte es so stark wie bei einer Lagerfeuerstelle im strömenden Regen. Vielleicht musste sich Woody Allen dieser süßlich falschen Romantik wieder entledigen. Nun brilliert Emma Stone neben Joaquin Phoenix. Beide trägt eine unerwartet gute Chemie. Stone gelingen gar preisverdächtige Momente, wenn sie z.B. den Grund hinter Abes neugewonnener Lebenslust aufdeckt.
Der Film geht geradezu utilitaristisch dem größtmöglichen Glück auf die Spur. Inwieweit kann der Tod eines Menschen dem Wohl aller dienen? Welche Grenzen hat die persönliche Suche nach (romantischem) Glück? Im Gegensatz zu Match Point sorgt der Zufall in Irrational Man für eine Art kosmische Gerechtigkeit. Ein moralisches Prinzip lässt sich dahinter allerdings nicht vermuten. Für Allen sind Ethik und Moral bloße Konstruktionen; seidene Vorhänge, die uns scheinbar von der nackten Barbarei trennen. Und dennoch brauchen wir sie wie die Luft zum Atmen, um nicht unterzugehen, um eben Menschen zu bleiben. Filme wie Irrational Man fordern uns schlussendlich gerade dazu heraus.