– gesehen im Rahmen des Wettbewerbs der 75. Internationalen Filmfestspiele von Cannes –
Surgery is the new sex.
Mit seiner Partnerin Caprice (Léa Seydoux) zeigt Saul Tenser (Viggo Mortensen), ein prominenter Performancekünstler, öffentlich bei operativen Eingriffen die in seinem Körper selbstgenerierten neuen Organe. Timlin (Kristen Stewart), eine Ermittlerin des National Organ Registry, verfolgt obsessiv die Vorstellungen. Zuvor allerdings sehen wir erst einmal einen Jungen an einer Küste spielen, im Hintergrund liegt ein Kreuzfahrtschiff im Meer, ähnlich dem nach der Katastrophe der Costa Concordia vor zehn Jahren. Der Junge wird von seiner Mutter zurück ins Haus gerufen und schnell wird dem Zuschauer klar, dass mit ihm etwas überhaupt nicht stimmt. Und tatsächlich, der Junge kann hartes Plastik essen. Die Mutter ist mittlerweile an dem Punkt angekommen, dass sie den Zustand ihres Sohns nach all den Jahren nicht mehr ertragen kann. Für sie ist er ein Monster geworden und so tötet sie ihn im Schlaf und übergibt seinen Leichnam dem Vater. Der wiederum pflegt den Kontakt zu Saul Tenser. Eine öffentliche Obduktion des abnormalen Kindes soll die Zukunft der Menschheit auf den Kopf stellen.
Das ist denke ich die nachvollziehbarste Inhaltsangabe, welche ich euch zu Crimes of the Future geben kann, ohne zu viel zu verraten. Kristen Stewart selbst (zuletzt überragend in Spencer) behauptete, sie hätte das Drehbuch erst nach der Erstsichtung des Films verstanden. Aber machen wir uns nichts vor, David Cronenbergs neuester Streich ist einer der am schwersten zugänglichen Filme des Regisseurs seit langer Zeit. Dass die Weltpremiere auf Spätabend gelegt wurde, ist der ganzen Nachvollziehbarkeit sicherlich auch nicht ganz zuträglich gewesen. Selbst drei Tage später weiß ich, obwohl ich David Cronenbergs Schaffen verehre, seine aktuellste Zukunftsvision noch nicht für mich und im Oeuvre des kanadischen Enfant Terrible einzuordnen. Crimes of the Future hat mich nachdenklich, gleichzeitig aber auch unterwältigt zurückgelassen.
Vor Filmpremieren wurden schon so einige Statements von Filmemachern bzw. von Produktionsstudios gemacht. Die wenigsten Publicity-Stunts entpuppen sich hierbei am Ende dann aber tatsächlich wie von ihnen angekündigt. Die geschürte Erwartungshaltung wird im Falle von Crimes of the Future sogar komplett ad absurdum geführt. Denn es wird nicht geliefert, wie vesprochen. Als Film, der wenige Tage vor der Weltpremiere damit angekündigt wurde, dass schon nach wenigen Minuten die ersten Zuschauer den Saal verlassen oder der eine oder die andere im Saal ohnmächtig werden würden, ist Crimes of the Future dann doch ziemlich harmlos ausgefallen. Bis auf ein paar Schnittwunden oder angenähte Ohren ist aus Body-Horror-Sicht nicht viel los. Die Erwartungen diesbezüglich solltet ihr also herunterschrauben, denn Crimes of the Future ist kein neuer Cronenberg-Film, bei dem das Publikum einen Massenabgang machte, wie 1996 bei der Cannes-Vorstellung von Crash (obwohl es bei diesem wiederum ganz andere Gründe hatte). Ein Vergleich damit, wie eklig der Körperhorror bzw. wie zahlreich die Zuschauer des jeweiligen Films sind, die den Saal verlassen, sagt aber letzten Endes sowieso nicht viel über das Endprodukt aus.
Also worum geht es jetzt eigentlich wirklich im Kern der neuen Vision von David Cronenberg, an welcher er immerhin jahrelang gearbeitet hat (das Drehbuch hat er angeblich schon vor zwanzig Jahren geschrieben)? Und warum ist dieser als Utopie bzw. Dystopie – zwischen den beiden kann sich Cronenberg nicht wirklich entscheiden – für meinen Geschmack unterwältigend ausgefallen?
Das Körperhorrordrama mit Viggo Mortensen, Kristen Stewart, und Léa Seydoux in den Hauptrollen ist leider ingesamt deswegen keine durchgehend beeindruckende Zukunftsvision geworden, weil uns der kanadische Regisseur leider keinen Horrorfilm zum Erleben und zum Fühlen bietet, welcher mit lebendigen, einprägsamen Bildern und einer klaren Richtung seine Wucht entfaltet. Das meisterhafte Beispiel hierfür: Die Fliege (1986). Und das, obwohl Crimes of the Future zunächst wie ein prototypischer Cronenberg startet: Die charakteristische Vorspannsequenz unterstützt von Howard Shores mysteriösen Melodien lassen anfangs auf einen weiteren Geniestreich des Altmeisters hoffen. Dann jedoch wird uns vom namhaften Cast hauptsächlich ein intellektueller Gedankenaustausch präsentiert, der ähnlich viele Thesen präsentiert, wie David Cronenbergs einziger bisher komplett misslungener Film. Auch eine Eine dunkle Begierde (2011) wirft Fragen über Fragen auf, welche alle nur ungenügend bis gar nicht weiter behandelt werden.
Long live the new flesh!
Diese Worte begleiten David Cronenbergs revolutionäres Zukunftsbild Videodrome aus dem Jahr 1983 – und es wäre auch ein passender Slogan für Crimes of the Future gewesen. Cronenberg lässt seine Figuren hauptsächlich Thesen aufstellen, wie die Zukunft der Menschheit mit Blick auf das Körperliche aussehen könnte. Ein Thema, welches David Cronenberg bekanntermaßen seit jeher intenstiv beschäftigt. Dieses Mal blickt er in eine Zukunft, in der das menschliche Äußere und die bisher gängingen Wege der körperlichen Befriedigung komplett ihre Reize zu verloren haben scheinen. Es ist die Zeit der Körperentstellung und der inneren Organe. Der neue angesagte Weg der Penetration ist der operationelle Eingriff in den Körper.
Diese Dekonstruktion und Rekonstruktion des Körperlichen ist ein unfassbar spannendes Thema. Doch anstatt sich allein diesem Thema zu widmen, gibt es noch weitere Hypothesen darüber, welche Zukunft auf die Menschheit warten könnte. Und irgendwie soll dann auch noch die Auseinandersetzung mit Behörden ihren Platz in dem nicht mal zwei Stunden langen Film finden. Crimes of the Future ist wirklich voller interessanter Impulse und allein deshalb sehenswert – doch auf eine zentrale These fokussiert sich Cronenberg bedauerlicherweise nicht. Und genau diese fanatische Auseinandersetzung mit einer Idee zeichnete schließlich alle bisher herausragenden Cronenberg-Arbeiten aus. Beispielsweise auch die erste unvergessliche Zusammenarbeit zwischen Viggo Mortensen und David Cronenberg aus dem Jahr 2005, ein herausragendes Drama über die Gewalt als Virus der Gesellschaft. Die Rede ist natürlich von A History of Violence, welcher damals ebenfalls im Wettbewerb von Cannes lief. Ähnlich nachhallend war die Zusammenarbeit der beiden Künstler zwei Jahre später in Form des Gangster-Dramas Tödliche Vesprechen – Eastern Promises, welches Viggo Mortensen sogar eine Oscar-Nominiering als bester Hauptdarsteller einbrachte.
Damit ist es umso bedauerlicher, dass wir mit Crimes of the Future, trotz des famosen Casts, ein unentschlossensten Werk präsentiert bekommen, welches am Ende letztlich nicht sonderlich viel zu sagen hat und mich, trotz ein paar humorvollerer Szenen, auch nicht wirklich berührt hat. Schmerzhaft sind daher auch die wenigen extremeren Szenen nicht, da ich mit den Charakteren bis zum Ende keine Identifikationsmöglichkeiten fand.
Zumindest bei der Erstsichtung zu später Stunde also schlichen sich mit Voranschreiten der Handlung sogar ein wenig Frustration sowie Langeweile heran. Während sich David Cronenberg von einer unerwartet sanften Seite zeigt, ist Crimes of the Future am Ende nicht mehr als ein dezent sehenswerter Film voller Ideen, um darüber zu reflektieren, was mit dem Fortschritt der technologischen Möglichkeiten aus der Menschheit werden könnte. Das mag einigen ausreichen, als eingefleischter Cronenberg-Fan hat mich das alles jedoch eher unterwältigt.
★★★★★☆☆☆
Sehenswert!
Crimes of the Future startet am 10. November 2022 deutschlandweit in den Kinos. Ab dem 24. März 2023 ist der Film bereits fürs Heimkino erhältlich.* Hier geht’s zum Trailer.
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Auf jedem Gebiet der menschlichen Erkenntnis gibt es einen Abgrund der Poesie.