Netflix-Kritik: Weißes Rauschen (USA 2022)

– gesehen im Rahmen der 79. Filmfestspiele von Venedig 2022 –

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© Netflix

You can’t hear it, if it’s everywhere.

Noah Baumbach ist wirklich einer der interessantesten US-amerikanischen Filmemacher des letzten Jahrzehnts. Seit Frances Ha (2012) hat der in Brooklyn, NY geborene Autorenregisseur erfolgreich eine treue Fan-Base aufgebaut, zumeist mit seiner Lebensgefährtin und ebenfalls Erfolgsregisseurin Greta Gerwig (Lady Bird) vor der Kamera. Herausgekommen sind hierbei bisher zumeist herausragende Tragikomödien – mein bisheriger Favorit der eher unterschätzter Mistress America (2015). Mit dem bergmanesken Marriage Story (2019) konnte er dann immerhin sechs Oscar-Nominierung abstauben, Laura Dern wurde am Ende sogar als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet. Nach diesem Erfolg waren die Erwartungen an seine neueste Regiearbeit Weißes Rauschen (OT: White Noise) natürlich umso größer – zumal sich Noah Baumbach damit der Adaption des als unverfilmbar geltenden gleichnamigen Romans von Don DeLillo, einem der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Amerikas, angenommen hat.

Die Reise von Noah Baumbach und seinen neuesten Netflix-Filmen scheint hierbei wie eine perfekte Beschreibung für die Beziehung zwischen dem Streaming-Anbieter und Filmfestivals. Nur einmal nahm Noah Baumbach bisher mit The Meyerowitz Stories (2017) am Festival de Cannes teil, dem einzigen Jahr, in dem von Netflix produzierte Filme an der Côte d’Azur im Wettbewerb um die Goldene Palme konkurrieren durften. Weißes Rauschen ist jetzt erneut eine Netflix-Produktion, welche in Venedig Weltpremiere feiern darf – und das sogar als Eröffnungsfilm, was die Erwartungen vorab noch ein wenig weiter bei mir stiegen ließ.

„Die Familie ist die Wiege der weltweiten Desinformation.“ schreibt Don DeLillo in seinem für den Film als Grundlage dienenden Kultroman. Ein sinnbildhafter Witz, den Noah Baumbach insbesondere in der ersten Hälfte des Films ganz wunderbar mit einem abermals irre aufspielenden Adam Driver (Annette, The Last Duel) und ein nicht minder einnehmenden Performance von Greta Gerwig filmisch umzusetzen weiß. Zwischen wahnwitzigen familiären Alltagssituationen und einem Umweltdesaster, welches deren Leben ganz gehörig aus der Bahn wirft,  startet Noah Baumbach ein chaotischen filmisches Spektakel über Tod, (Selbst-)Entfremdung und die Übersättigung durch Konsum und Medien. Alles zusammen vereint er zum titelgebenden Tinnitus, der zum Hintergrundgeräusch unseres Lebens geworden ist und der zur stetig größer werdenden Orientierungslosigkeit unserer Gesellschaft beiträgt.

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© Netflix

Zusammen mit Adam McKays Don’t Look Up (ebenfalls ein Netflix-Original aus dem letzten Jahr) und mit Jordan Peeles Nope (aktuell noch im Kino) bildet Weißes Rauschen hierbei ein passendes drittes Kapitel unserer /post-)pandemischen Gesellschaft, die einer Hysterie verfallen ist, aus welcher nun jeder Einzelne einen Ausweg zu finden versucht. Die einen werden besessen vom Tod; andere sind fasziniert von Massendynamiken (wie auch der von Adam Driver gespielte Vater und Professor für Hitler-Studien), die meisten hingegen versuchen ihren persönlichen Frieden im Konsum und damit auch in der Sucht zu finden (so auch die von Greta Gerwig gespielte Mutter, die sich auf einen geheimen medizinischen Test von Wunderpillen einlässt).

Don DeLillos Roman gilt vor allem aufgrund der Vielschichtigkeit und komplexen Themen, aber auch aufgrund der erzählerischen Finesse über die Ängste und Qualen einer Gesellschaft als unverfilmbar. Ich selbst habe die Gesellschaftsbeschreibung aus dem Jahr 1985 zwar noch nicht gelesen, kann jedoch sagen, dass es sich in der Verfilmung durchaus bemerkbar macht, wie multidimensional und radikal die Vorlage ist. An David Cronenbergs Verfilmung von DeLillos Cosmopolis (2012) kommt Weißes Rauschen am Ende nicht heran, denn der Film ist gerade zum Ende hin ein wenig zu zahm gehalten. Auch findet Noah Baumbach bis zum Ende keinen einheitlichen Ton und springt beliebig zwischen der für ihn typischen tragikomischen Erzählweise, spielbergscher Science-Fiction-Poesie, radikalen Ansätzen aus der Vorlage und nicht immer amüsanten Witzen (“Elvis is my Hitler”) hin und her. Dadurch ergibt sich nur selten ein erzählerischer Fluss, welcher einen dauerhaft in seinen Sog zu ziehen vermag.

Durchgehend unterhaltsam bleibt Weißes Rauschen aber trotzdem und Noah Baumbach hat es zumindest probiert die Visionen der Vorlage treu in filmische Form zu bringen, was ihm zumeist gelungen ist. Weißes Rauschen ist zwar keiner seiner besten Filme, jedoch wieder ein mindestens sehenswertes Erlebnis, welches man bei Möglichkeit auf der großen Leinwand und mit einer Masse an Menschen gesehen haben sollte. Die Publikumsreaktionen bei der Weltpremiere in Venedig waren teilweise unbezahlbar. Adam Driver, Greta Gerwig und der deutsche Gaststar Lars Eidinger sorgen für ein paar wirklich unvergessliche Szenen.

Weißes Rauschen erscheint am 30. Dezember 2022 exklusiv bei Netflix und läuft bereits vorher ab dem 8. Dezember 2022 für kurze Zeit deutschlandweit in ausgewählten Kinos.

★★★★★☆☆☆
Sehenswert!

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