Eine Gastkritik von Michael Gasch – Kritik erstmals zu lesen am 19. Januar 2023
Sodom und Gomorrha in Hollywood
Ins Kino zu gehen, kann viele Gründe haben. Den Kinosaal mit dem unerwarteten Gefühl zu verlassen, selbst Teil der Filmgeschichte zu sein, gehört für gewöhnlich nicht dazu. Kein Wunder, schließlich kann es ein paar Jahre bis Jahrzehnte dauern, bis das Publikum sich dessen bewusst wird – siehe zum Beispiel Blade Runner. Damals ein Flop, heutzutage schon lange im Fundus der Science-Fiction-Klassiker, lässt sich ein Funke Erkenntnis mitnehmen: Das gegenwärtige Publikum entscheidet nicht, ob ein Film in die Annalen der Filmgeschichte eingehen wird, die Zeit zeigt es. Die Zeit wird auch noch über Babylon urteilen, doch liegt nicht bereits jetzt ein gewisser revolutionärer Duft in der Luft?
Das filmische Sujet könnte dabei nicht überfordernder ausfallen: Drei Stunden Laufzeit – das ist dem Gelegenheitskinogänger ohnehin viel zu lang, steht nicht gerade Marvel, DC oder Avatar auf dem Medienerzeugnis – stellt ein Publikum, welches an Content im Sekundentakt gewöhnt ist, auf eine harte Probe. Jede Menge strapaziöse Übersteigerungen sowie eine historische Aufarbeitung der Stummfilmzeit kommen hinzu. Für so manche*n gibt es schon attraktivere Themen, um das Kino aufzusuchen. Zumindest kann Babylon mit einer konstanten Unvorhersehbarkeit und vielen Überraschungsmomenten aufwarten. Nacktheit, Sex, Drogen und Gewalt, schlichtweg Maßlosigkeit und last but not least Margot Robbie in Hochform gibt es auch noch.
Mit seinem neuesten Werk schlägt das junge Mastermind Damien Chazelle nach dem harmlosen und lieblichen La La Land das zweite Kapitel über Hollywood auf und gern dürfen es noch mehr werden. Erinnern wir uns an seinen eben erwähnten Vorgängerfilm zurück. Zu jeder Zeit charmant inszeniert, ehe sich das Meisterwerk mit glanzvoller Aufmachung gegen Ende hin noch einmal ganz neu erfand, zog es das Publikum mit einem der schönsten und authentischsten Leinwandpaare aller Zeiten, bestehend aus Emma Stone und Ryan Gosling, sowie bildlicher und musikalischer Raffinesse in seinen Bann. 14 Oscar-Nominierungen später ging La La Land in die Filmgeschichte ein. Eine stattliche Anzahl, die bis dato nur zwei weitere Filme (Alles über Eva und Titanic) erreichten. Es war sein erster Geniestreich über die amerikanische Filmschmiede, doch dabei konnte er es natürlich nicht belassen. Babylon, der nun den radikalen Gegenfilm zu La La Land abgibt, ergänzt sich inszenatorisch, narrativ und melodisch tadellos mit seinem geistigen Vorgänger; zeitlich ebenso, folgt nun, anders als in La La Land, kein Trip in die Gegenwart, sondern in die Vergangenheit, genauer gesagt in die Stummfilmzeit Hollywoods vor fast über einhundert Jahren.
Bel Air, Kalifornien, 1926. Tanzende und kopulierende Körper zieren die ersten Minuten. Es folgt der Auftritt der Schauspielikone Jack Conrad (Brad Pitt), eines Stummfilmstars, der vom Tonfilm heimgesucht werden wird und um seinen Platz in dieser neuen Welt kämpfen muss, der noch unbekannten, aber dafür umso eifrigeren Schauspielerin Nellie LaRoy (Margot Robbie), die aus einer verständnislosen Umwelt ausbrechen will und mit überbordenden Selbstbewusstsein ihr Star-Sein Hollywood entgegenbrüllt, auf dass es sie erhöre und ihr das entsprechende Leben zuteilwerden lasse und Manny Torres (Diego Calva), Sohn mexikanischer Einwanderer, der auf Nelly trifft und sich mitziehen lässt, dahin, wo Träume in Erfüllung gehen: nach Hollywood. Ganze 31 Minuten und 35 Sekunden zieht sich die Einführung jener Figuren hin, bis der fulminante Auftakt in der Intro-Tafel kulminiert und sieben kryptische Letter B A B Y L O N in milanorot erscheinen. Das Rot ist wohl Absicht und als Warnfarbe mit Blick auf das, was in den restlichen zwei Stunden folgen wird, zu deuten. Zwischenresümee: Es gab bis zum jetzigen Zeitpunkt schon reichlich Elefantenkot, eine ausschweifende Party à la Sodom und Gomorra, intensive Bandmusik, die sich irgendwo zwischen Swing, Jazz und Charleston verorten lässt, Schauspieler*innen in Topform und ein beispielloser One-Shot durch das tanzende Getümmel, abgerundet durch Momente, in denen Chazelle noch genug Zeit findet, die Einzelschicksale in dieser unheimlich aufregenden Ära, in der Bilder sprechen lernten, ins Laufen zu bringen.
Ein filmisches Genie der Moderne
In der ausladenden Ästhetik finden sich dabei zwei einander ergänzende Gegensätze, mit denen der Jungregisseur gekonnt hantiert. Die erste Komponente, die der Unterhaltung, ist zu jeder Zeit spürbar, wobei Chazelle tief in seine Trickkiste greift. Im Repertoire sind nicht nur rasante und schnittige Dialoge, sondern ebenso die schwungvollsten bis exzentrischsten Filmfiguren der letzten Jahre. Und Tobey Maguire. Und Spike Jonze (Adaption, Her). Und Red Hot Chili Peppers-Bassist Flea. Ein Gag hier, eine Kotz-Szene da, und jede Menge Drogen und Nacktheit runden das reine Unterhaltungsprogramm in seiner Gesamtheit perfekt ab, um das Publikum niederschwellig zu bespaßen. Die Frage der Stunde kommt auf: Welcher große Kinofilm seit Baz Luhrmanns Moulin Rouge hat in 22 Jahren jemals so viel Ekstase, Prunk und Spaß geboten? Verruchtheit, die nicht zu kurz kommt, und gleichermaßen für Erregung und Bewunderung sorgt, bildet die Kirsche auf der überhaupt nicht veganen Sahnetorte.
Unter dem bunten und glanzvollen Äußeren, ständig von der nicht minder meisterlichen musikalischen Untermalung umhüllt, ruht präzise Cleverness, die Chazelle als zweite Komponente liebevoll in das babylonische Gewand hineinstickt. Wenn Namen wie Eli Wallach oder Buster Keaton in einem Nebensatz fallen oder Fatty Arbuckle plötzlich im Hintergrund auftaucht, entwickelt sich schnell eine cineastische Überlegenheit seinen Sitznachbar*innen gegenüber. Ein fantastisches Gefühl, denn wer kennt diese Namen, zumindest aus dem jungen Publikum, heutzutage noch? Babylon ruht sich auf solchen Meta-Spielereien jedoch nicht aus und will schon gleich gar nicht ein Film nur für Film-Connaisseurs sein. Dafür ist das komödiantische Historiendrama viel zu vielschichtig konzipiert, wie es allein eine Szene bei Sonnenuntergang zeigt, in der regelrechte Filmmagie auf Zelluloid gebannt wird. Imposant und oder unerwartet, werden die einen vielleicht dazu sagen. Die Bilder sagen darüber hinaus, zumindest für den Autor dieses Textes, mehr als tausend Worte. Aus dem Staunen wieder heraus zu kommen, entpuppt sich in vollendeten Szenen wie jenen als gar nicht so einfach. Alsbald wird Eines ganz deutlich: Die eigene Liebe zum Kino kann noch so groß sein, sie ragt nicht einmal ansatzweise an die von Damien Chazelle heran, wenn er eben jene Liebe transformiert und damit ganz große Kinobilder kreiert.
Allerdings wäre Chazelle nicht Chazelle, würde er auf diese schon vorhandene Brillanz nicht noch etwas draufsetzen. Dies fängt bei der Substanz zwischen den Zeilen an, wobei er sich zu keinem Zeitpunkt in eine moralische Position hineinmanövriert, sondern mehr einen Chronisten abgibt. Egal wie dunkel und abwegig die Geschichte in Babylon auch erscheinen mag, sieht er sowohl die Geschichte als auch seine Figuren, die an reale Stummfilmstars angelehnt sind, nicht als verwerflich an, im Gegenteil. Das war schon alles gut so, wie es uns der Film vorführt, auch wenn es einige Opfer, seien diese nun menschlicher oder filmischer Natur, gekostet hat. Der Trip in der Vergangenheit ist damit nicht nur unterhaltsam anzusehen, sondern auch erhellend, was sich schon bei den zu viel oder zu wenig experimentierfreudigen Kinoflops der Zeit zeigt, wie es auch der exzentrische Jack zu spüren bekommt. Beileibe sind solche Produktionen nicht in die Geschichte eingegangen und doch prägten sie diese durchaus genauso stark mit wie es die Kassenschlager und Evergreens taten, besonders ab 1934 und den cineastischen Beschneidungen durch den Hays-Code, welcher Hollywood auf den Kopf stellte. Chazelle formuliert all diese feinen Andeutungen historischer Momente nicht bis zum Ende aus und das muss er auch nicht. Die Botschaft zwischen den Zeilen spricht für sich selbst: Ohne Geschichten wie jene, die wir in Babylon gleichermaßen bestaunen und über uns ergehen lassen müssen, gäbe es das Kino in der Form, wie wir es heute vorfinden, wohl nicht. Da Chazelle das Epos verehrt, wird im Laufe der drei Stunden neben der Schonungslosigkeit und Cleverness, zusätzlich sein Anspruch immer sichtbarer, etwas Großes oder zumindest ein opulentes Werk zu hinterlassen. Erneut ist die filmische Erhabenheit, die sich ebenso wie ein roter Faden durch La La Land zieht, deutlich spürbar und fast schon könnte man ihm den Vorwurf machen, wieder die gleichen Knöpfe zu drücken, ebenso wie Justin Hurwitz als Soundtrack-Buddy erneut die gleichen Töne trifft. Grandios, dass das trotzdem funktioniert.
Der Punkt, an dem sich die Spreu vom Weizen trennt
Wäre das jetzt alles, könnte man an dieser Stelle mit den Lobeshymnen aufhören und doch steht noch ein Kapitel offen, mit welchem Babylon (hoffentlich) in die Filmgeschichte eingehen wird. Während La La Land sich am Ende noch einmal neu erfindet und uns nicht nur eine antiromantische Vorstellung, sondern auch eine charmante Antithese zur Goldenen Ära Hollywoods bescherte, dekonstruiert auch Babylon sich noch einmal ganz neu. Dieses Ende ist zwar bei Weitem nicht so charmant in Szene gesetzt, dafür aber umso radikaler. Ewig lang zieht sich das hin, bis die Geschichte zweieinhalb Stunden später in den 1950ern angekommen und die Filmmagie auf den ersten Blick erloschen ist. Die ekstatische Zeit ist vorüber, einige Protagonist*innen sind ihrer Vergänglichkeit zum Opfer gefallen und auch im Kino hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Manny, der Träumer, der den American Dream am intensivsten träumte, vergießt bei einem Kinobesuch nun Tränen, wobei sich nur spekulieren lässt, was in seinem Kopf vor sich geht. Die Bilder, die den Moment wunderschön festhalten, bieten dank Chazelles Hingabe zum alten Kredo „Show it, don’t tell it“ glücklicherweise genug Einfühlungsvermögen. Statt banaler Trivialitäten à la „früher war alles besser“ stellt sich eine grandiose Einsicht ein: Es sind so viele Filme ins Land gegangen – sowohl schlaue Skripte, die schlecht verfilmt wurden als auch rassistische Filme und jene Produktionen, welche Stummfilmstars zugrunde richteten. Während jene Werke untergingen, stiegen so manche Regisseur*innen mit rareren Meisterwerken in den Olymp der Filmgeschichte auf. Eine schöne Vorstellung, wenn die nächste filmische Ausnahmeproduktion à la Singin’ in the Rain – die Inspirationsquelle schlechthin für Babylon – nur einen Atemzug entfernt ist. Was ist schon ein Jahrzehnt in filmischen Dimensionen?
Einen Endspurt hat Chazelle, in den wenigen Minuten gen Ende hin, nicht nötig, da er eigentlich die Ziellinie schon längst passiert hat. Im Youtube-Style, sich den Sehgewohnheiten eines neuen Publikums anpassend, folgt eine Montageszene aus Schnipseln der Filmgeschichte. Eigentlich nichts Besonderes und doch besonders in all seiner Komplexität. Schnell werden Themen wie Vergänglichkeit und das generelle Leben der Zwanzigerjahre nun ad acta gelegt, da die Collage alle Sinne alleine für sich beansprucht – fast schon zum Nachteil der vorangegangenen 170 Minuten. Sind wir ehrlich: Fühlen sich diese, mit Blick auf die letzten zehn Minuten, erzählerisch etwas irrelevant an? Natürlich. Ist es aber jemals Chazelles Anspruch gewesen, uns mit Babylon einen konventionell charmanten und glamourösen Film vorzusetzen, der das Publikum nur kurzweilig unterhalten soll? Die Antwort erübrigt sich.
„Ich wollte immer Teil von etwas sein, das bleibt“, heißt es an einer Stelle und erst jetzt kristallisiert sich die eigentliche Intention hinter Babylon heraus: Der bereits interpretierte Anspruch, einen neuen Singin’ in the Rain zu kreieren, geht vollends auf, da es nun nicht mehr um den kurzen Kinoaufenthalt geht, sondern um größere zeitliche Dimensionen über ein Menschenleben hinaus. Ausschnitte aus Stumm- und Farbfilm, Surrealismus, Epos, Film noir, Nouvelle Vague, New Hollywood, CGI-Revolution und sonstigem Innovationskino, verdichtet auf zwei Minuten, sorgen dafür, dass sich das Mensch-Sein plötzlich ganz klein anfühlt. Ein Schauer zieht über den Rücken. Die Gefühle von Ehrfurcht und Dankbarkeit jenem Regisseur gegenüber, der es schafft, das Kino zu einem lebensverändernden Ort zu machen, bringt uns wieder an den Anfang. Langsam dämmert das unerwartete Gefühl, selbst Teil der Filmgeschichte zu sein.
Fazit
Wenn beim Einsetzen der Filmcredits im Kopf völliges Chaos herrscht und das Blut vor lauter Aufregung in den Adern rast, handelt es sich wohl um ein gutes Zeichen, sofern man ansonsten behaupten kann, einen gesunden Körper seinen Tempel nennen zu dürfen. Während die maximal stimulierten Gehirnareale noch mit sich zu tun haben, meldet sich die Großhirnrinde: Wurde mit Babylon gerade wirklich Filmgeschichte geschrieben, ja, handelt es sich gar um einen noch besseren Film als das eh schon meisterliche La La Land? Ja! Ja? Vielleicht? Um diese Frage eindeutig beantworten zu können, folgten in den darauffolgenden Tagen zwei weitere Filmsichtungen; ein absolutes Novum in elf Jahren intensiven Filmkonsums.
Erst nach und nach kam die verblüffende Erkenntnis, dass Babylon in der Gesamtheit ein filmisches Meisterwerk ist, da es maximale Überforderung mit maximalem Genuss in einer vorher noch nie dagewesenen Art und Weise verbindet. Mit unbändiger Liebe, Leidenschaft und seiner Fähigkeit, sich mit der Magie des Films ambivalent auseinanderzusetzen, vereint Damien Chazelle das pure Ideal eines Filmregisseurs. Schon schade, dass dies weder von den Kritiker*innen, noch von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences vollends gewürdigt wird. Auch wenn jene Umstände nicht perfekt sind, ist es immer noch schön, die Möglichkeit in Aussicht zu haben, eines Tages den Enkelkindern von jenem unvergesslichen filmhistorischen Moment erzählen zu können, als der aktuellste Film aller Filme in den Kinos lief.
★★★★★★★★
Ein Meisterwerk
Babylon startete am 19. Januar 2023 deutschlandweit im Kino. Zudem ist der Film bereits ab dem 6. April 2023 fürs Heimkino* erhältlich. Hier geht’s zum Trailer.
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