Ein weiteres Filmjahr geht zu Ende. Und es sollte eigentlich das erste Filmjahr des neuen Jahrzehnts mit zahlreichen cineastischen Highlights werden. Doch wie wir alle wissen, lief in diesem Jahr rein gar nichts so, wie es irgendjemand geplant hatte. Zu Beginn des Jahres 2020 sah die Filmzukunft eigentlich schön aus – voller Ewartungen an filmische Leckerbissen, von großen Blockbustern (James Bond – Keine Zeit zu sterben, Dune und West Side Story) bis zu potentiellen Arthouse-Perlen (wie Leos Carax’ Annette und Paul Verhoevens Benedetta). Doch dann stellte sich die Welt im März komplett auf den Kopf und die Kinos sind/waren seitdem weltweit für die meiste Zeit geschlossen. Fast sämtliche renommierte Festivals wurden abgesagt oder fanden nur im limitierten Rahmen mit nur wenigen ausgewählten Filmen statt. Für mich war es das erste Jahr seit knapp einem Jahrzehnt, dass ich gleich gar kein Filmfestival besuchen konnte.
Und so ist 2020 in fast sämtlicher Hinsicht eine Enttäuschung. Fast, weil es, trotz der Schließung der Kinos, trotz des Mangels an gemeinsamen Seherlebnissen und trotz des Fehlens von Filmfestivalbesuchen, doch noch einige mehr als sehenswerte Filme zumindest online auf die heimischen Bildschirme geschafft haben. An dieser Stelle muss ich wohl oder übel gestehen: Ohne die Streaming-Plattformen wie Netflix, Amazon Prime und Co wäre 2020 wahrscheinlich ein Jahr fast komplett ohne cineastische Erlebnisse geworden.
Und so gibt es von meiner Seite dieses Jahr eine etwas andere Jahresendliste, welche hauptsächlich Streaming-Highlights und dabei auch die eine oder andere Miniserie (bzw. Langfilm, alles eine Sache der Perspektive) enthält. Wie jedes Jahr, wurden für meine Liste natürlich nur Filme berücksichtigt, welche innerhalb des Jahres ihren deutschen Kinostart feierten bzw. in Deutschland direkt für das Heimkino (Blu-ray, Streaming) erschienen sind. Viel Spaß beim Lesen! Welcher ist euer Lieblingsfilm des Jahres?
Sehenswert, immer eine Sichtung wert:
Lovers Rock* (Steve McQueen), Ema (Pablo Larraín), Jojo Rabbit (Taika Waititi), Time to Hunt (Sung-hyun Yoon), Das Dilemma mit den sozialen Medien (Jeff Orlowski), Ein verborgenes Leben* (Terrence Malick), Zimmer 212 – In einer magischen Nacht (Christophe Honoré), His House (Remi Weekes), Die bunte Seite des Monds (Glen Keane, John Kahrs), Monsieur Killerstyle* (Quentin Dupieux), Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga (David Dobkin) und Da 5 Bloods (Spike Lee)
Die größten Enttäuschungen:
Tenet (Christopher Nolan), Mank (David Fincher), Knives Out* (Rian Johnson) und 1917 (Sam Mendes)
Die schlimmsten Filme des Jahres:
The Midnight Sky (George Clooney), Holidate (John Whitesell), Borat Anschluss Moviefilm* (Jason Woliner), Berlin Alexanderplatz* (Burhan Qurbani), Rebecca (Ben Wheatley), Vivarium (Lorcan Finnigan), Mulan (Niki Caro) und The Last Days of American Crime (Olivier Megaton)
Leider noch nicht gesehen:
Kajillionaire (Miranda July), Bohnenstange (Kantemir Balagov) und Vergiftete Wahrheit (Todd Haynes)
2021 – meine Top 5 der meisterwarteten Filme:
Annette (von Leos Carax, mit Marion Cotillard und Adam Driver), Benedetta (von Paul Verhoeven, mit Virginie Efira und Lambert Wilson), Nomadland (von Chloé Zhao, mit Frances McDormand), West Side Story (von Steven Spielberg, mit Ansel Elgort und Rachel Zegler) und Dune (von Denis Villeneuve, mit Timothée Chalamet und Rebecca Ferguson)
Weitere heißerwartete Veröffentlichungen findet ihr im Filmkalender.
Und hier nun meine Top 10 Lieblingsfilme des Jahres 2020:
10 | Little Women (Kinostart: 30.01.)
von Greta Gerwig, mit Saoirse Ronan und Emma Watson
I suppose marriage has always been an economic proposition. Even in fiction.
Schon Ende Januar stand für mich der voerst letzte Kinobesuch für die nächsten Monate an. Little Women ist hierbei ganz besonders erinnerungswürdig, da sich Greta Gerwigs fantastisch in Szene gesetztes Period Piece am besten auf der großen Leinwand entfalten kann. Die junge Regisseurin haucht in ihrem, nach Lady Bird*, erst zweiten Spielfilm Louisa May Alcotts gleichnamiger Romanvorlage neues Leben ein, was nicht nur der tollen Regiearbeit zu verdanken ist, sondern auch dem einmaligen Cast (Saoirse Ronan, Emma Watson, Timothée Chalamet, Florence Pugh, Laura Dern, Louis Garrel), die alle wirklich ganz wunderbar miteinander harmonieren. [Trailer]
9 | Die Wütenden – Les Misérables (Kinostart: 23.01.)
von Ladj Ly, mit Damien Bonnard und Alexis Manenti
Respect? People around here just fear you.
Ebenfalls Anfang des Jahres startete einer der beiden besten französischen Filme des Jahres. Ganz in der Tradition von Mathieu Kassovitz’ modernem Klassiker La Haine (wenn auch nicht so brillant zeitlos) erzählt Ladj Ly’s Die Wütenden kraftvoll und semi-dokumentarisch von diversen Dilemmata in den Pariser Vorstädten – von sozialen Ungleichheiten, von Polizeigewalt, von der abgehängten Jugend. Die Wütenden ist kein einfacher, aber ein wichtiger Film. Ganz nach Victor Hugo, nur ohne Romantik. [Trailer]
8 | Niemals selten manchmal immer (Kinostart: 01.10.)
von Eliza Hittman, mit Sidney Flanigan und Talia Ryder
Whatever your decision is is totally fine, as long as it’s yours.
Mein einziger Kinobesuch im Herbst, kurz bevor es in den Lockdown light ging. Und dieser Besuch hat sich gelohnt. Eliza Hittmans Niemals Selten Manchmal Immer ist ein spannendes, äußerst sehenswertes Abtreibungsdrama, welches von den nicht unüblichen Erlebnissen junger Frauen aufgrund ungewollter Schwangerschaften in Form eines leisen Thrillers erzählt. Besonders lobenswert sind hier die subtile Inszenierung sowie die darstellerischen Leistungen der beiden Protagonistinnen. Ein roher, ehrlicher Film, der auf übermäßigen Schnickschnack verzichtet. Falls ihr den Film noch nicht gesehen habt, könnt ihr ihn euch hier vorbestellen*. [Trailer]
7 | The Nightingale (Direct-to-DVD: 25.06.)
von Jennifer Kent, mit Aisling Franciosi und Charlie Jampijinpa Brown
Get me to the soldiers that came by this morning.
Regisseurin Jennifer Kent überraschte mich zuletzt mit ihrem Horrorfilm The Babadook* (2014). Bis zur Veröffentlichung ihrer neuesten Regiearbeit in Deutschland hat es zwar ein wenig gedauert, das Warten hat sich für mich jedoch gelohnt, denn The Nightingale ist absolut sehenswertes, packendes Rape and Revenge Kino in einem ungewohnt düsteren Setting (Tasmanien). Der Film wird es sicherlich nicht jedem recht machen können, einigen geradezu vor den Kopf stoßen, ist meiner Meinung nach aber einer der mutigsten Filme der letzten Jahre und dabei zum Teil zutiefst bewegend und menschlich. Eine andere Art von Horrorfilm. [Trailer]
6 | Intrige (Kinostart: 06.02.)
von Roman Polanski, mit Jean Dujardin und Louis Garrel
I don’t want another Dreyfus affair.
Der beste französische Film des Jahres. Roman Polanskis neueste Regiearbeit habe ich bereits 2019 in Venedig gesehen. Dort hat mich der Film beeindruckt wie kaum ein anderer, auch wenn ich ihn anfangs nicht so richtig einzuordnen wusste. Gerade mit den persönlichen Hintergründen Polanskis könnte Intrige missverstanden werden. In Wirklichkeit ist Polanski ein historisches Drama gelungen, welches gesellschaftlich sowie politisch nicht aktueller sein könnte. Polanski wagt sich an die Mechanismen eines korrumpierten Systems. Szene für Szene wird die Dreyfus-Affäre, ein Justizskandal, der die französische Politik und Gesellschaft in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts tief spaltete, zu einer zeitgenössischen Geschichte. Am Ende ist Polanskis Intrige ein dringender Appell dafür, hart erkämpfte Freiheiten nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Die historischen Parallelen zu Whisteblowern sind nicht zu übersehen. Intrige könnt ihr euch aktuell kostenfrei bei Amazon Prime* anschauen. [Trailer]
5 | Mangrove (Amazon Prime: 20.11.)
von Steve McQueen, mit Shaun Parkes und Letitia Wright
As individuals, we have an impossible battle. As a collective, we stand a chance.
Mangrove ist der erste von fünf Teilen von Steve McQueens Anthologie-Serie Small Axe, welche sich den alltäglichen gesellschafts-politischen Herausforderungen der westindischen Londoner Community zwischen den 60ern und 80ern widmet. Die erste Episode ist dabei zugleich auch die Beste. Ich wusste vorher nichts über die Zusammenstöße von Einwanderern mit rassistischer Polizeiarbeit im London der späten 60er und frühen 70er, welche Steve McQueen (Hunger) im Rahmen des Prozesses der Mangrove Nine von 1971 bewegend und klug zusammenfasst. Keine Sorge, Mangrove ist zwar sehr politisch, aber glücklicherweise nicht belehrend manipulativ, sondern eines der am stärksten geschriebenen und gespielten (Letitia Wright ist unglaublich!) Gerichtsdramen aller Zeiten, welches hierbei passend den gegenwärtigen Zeitgeist kommentiert. Ganz stark! [Hier könnt ihr euch Mangrove bzw. alle Episoden anschauen*]
4 | The Eddy (Netflix: 08.05.)
von Damien Chazelle, mit André Holland und Joanna Kulig
Your club has depts. Your club has big problems.
Damien Chazelles The Eddy war eines meiner meisterwartenen Filmprojekte des Jahres. Und die Warterei hat sich mehr als nur gelohnt. Okay, eigentlich ist es eine Miniserie, aber auf diese Verständnisfrage gebe ich nicht viel. Für mich ist The Eddy weniger Serie, als vielmehr ein sehr langer Film, in dem sich Chazelle ganz ausgezeichnet in episodenhafter Form der Pariser Jazz-Szene angenommen hat. Selten wurde das alltägliche Pariser Leben besser mit der Kamera eingefangen und der extra für The Eddy komponierte Jazz-Soundtrack ist so herausragend, dass ich mir deshalb sogar die Vinyl* gekauft habe. Und auch die Charaktere sind durch und durch passend besetzt, so dass Chazelles Konzept, einen französischen Jazz-Clubbesitzer, dessen Entourage und deren alltägliche Verwicklungen zu begleiten, vollkommen aufgeht. Damien Chazelle hat nach La La Land erneut ein einmaliges Erlebnis geliefert. Der Dank geht auch hier an Netflix, da einem Projekt dieser Art wohl niemand sonst grünes Licht gegeben hätte. [Trailer]
3 | Das Damengambit (Netflix: 23.10.)
von Scott Frank, mit Anya Taylor-Joy und Harry Melling
Anger’s a potent spice. A pinch wakes you up. Too much dulls your senses.
Wenn plötzlich viele nur noch von Schach sprechen, auch wenn er/sie mit dem kompliziertesten Brettspiel bisher rein gar nichts am Hut hatte, dann ist das Scott Franks Netflix-exklusiver Produktion Das Damengambit zu verdanken bzw. zu verschulden (je nachdem, wie man es sieht). Auch ich hatte niemals erwartet (gerade weil ich sehr gerne Schach spiele), dass mich Das Damengambit so sehr in seinen Bann ziehen würde. Bisher gab es nicht einen besonderen Film über das königliche Spiel und nun sollte ausgerechnet ein 393-minütiges Schachdrama in dieser Hinsicht bei mir für Begeisterung sorgen? Die überraschende Antwort: Das Damengambit ist in sämtlicher Hinsicht eine herausragende Produktion; kurzweilig, intelligent und fantastisch gespielt (Anya Taylor-Joy zeigt für mich die schauspielerische Darbietung des Jahres). Und dann ist da noch dieses phänomenale Setdesign, an dem ich mich nicht satt sehen konnte. Ich kann nur sagen: Wenn du schon mal überlegt hattest, diese Schachshow anzuschauen, tu es einfach. Und wenn du noch nicht darüber nachgedacht hast und du der Überzeugung bist, dass Schach langweilig sei, tu es ebenfalls. Du wirst nicht enttäuscht sein! [Trailer]
2 | I’m Thinking Of Ending Things (Netflix: 04.09.)
von Charlie Kaufman, mit Jessie Buckley und Jesse Plemons
People like to think of themselves as points moving through time, but I think it’s probably the opposite.
Dass es ein solch spezieller Film wie I’m Thinking Of Ending Things ausgerechnet auf Netflix geschafft hat, gleicht einem kleinen Wunder. Charlie Kaufman (Synecdoche, New York) spielt, wie dieses Jahr kein anderer Filmemacher, mit den Grenzen des Kinos, auf vollkommen lyncheske Weise, am ehesten ist das alles noch mit Yorgos Lanthimos The Lobster (2015) vergleichbar: In beiden geht es um dysfunktionale Beziehungen, beide sind teilweise zum Schreien komisch und gleichzeitig komplett gaga. In beiden Filmen geht es mehr darum zu beobachten, was der Film in einem selbst bewegt, mit Interpretationen kommt der Zuschauer nicht weit. Es gibt kaum Worte, um dieses Erlebnis zu beschreiben. Es ist furchterregend und verdammt verrückt und im selben Moment immer noch magisch und wunderschön anzusehen. Viele werden mit I’m Thinking Of Endings Things nichts anfangen können, ich jedoch schätze jede einzelne Sekunde, von der anfangs skurrilen 30-minütigen Autofahrt bis zur träumerischen Tanzeinlage in den Gängen einer Schule. Charlie Kaufman ist der einzig wahre Mindfuck des Jahres gelungen, vergesst Tenet! [Trailer]
1 | Soul (Disney+: 25.12.)
von Pete Docter, mit Jamie Foxx und Tina Fey
Life is full of possibilities. You just need to know where to look.
In diesem Jahr ist es soweit: Das erste Mal (seit wahrscheinlich überhaupt) schafft es ein Animationsfilm auf den ersten Platz meiner Jahresliste. Warum kann ich euch ganz genau sagen: Soul trifft exakt den richtigen Nerv (der Zeit), ist innovativ, fantastisch animiert, lebensbejahend, stellt sich gegen den überhandnehmenden Egoismus in der modernen Stressgesellschaft und ist daher das passende positiv stimmende Jazz-Abenteuer, um dieses mehr als nur seltsame Jahr 2020 mit einer optimistischen Note abzuschließen. Soul ist ein ehrlicher Weckruf, wie noch nie zuvor ein Pixar-Film für Erwachsene, welcher eine unglaublich wichtige Botschaft enthält. Und dabei so bunt, schräg und kurzweilig, dass es eine wahre Freude ist. [Trailer]
Hier geht es zu meinen Lieblingsfilmen der letzten Jahre: 2018, 2017, 2016, 2015, 2014, 2013.
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